Buch der Woche: Städte für Menschen

Neuer Standard

Die Stadt und mit ihr der städtische Raum sind in den letzten Jahren mehr denn je in den Fokus der Betrachtung gerückt. Geisteswissenschaften, Architektur und Stadtplanung nehmen sich dem Thema immer intensiver, detaillierter, ganzheitlicher und systemischer an. Dennoch ist zu konstatieren, dass seit Mitscherlichs Feststellung von der ‚Unwirtlichkeit unserer Städte‘ eine Veränderung zum Besseren eher langsam fortschreitet, gemessen an der Zeitspanne und den Entwicklungsschritten die andere Branchen – Computer- oder Kommunikationstechnik – seitdem vollbracht haben.

So könnte man durchaus feststellen, dass wir es in puncto Stadtplanung und Architektur noch nicht sonderlich weit gebracht haben. Die wenigen herausragenden Beispiele wie Kopenhagen oder Melbourne betrachten daher einige mit Neid, die anderen spielen deren Erfolg mit vermeintlichen kulturellen Unterschieden herunter. Getreu dem Motto, was dort gut ist, muss hier noch lange nicht funktionieren. Wer sich die hiesigen teils verlassenen, zugigen Plätze und Straßen in Stadtentwicklungsgebieten der letzten Jahre anschaut, mag erstaunt nach Oslo blicken und sich fragen, warum sich in der norwegischen Hauptstadt ein altes Hafenareal so gut mit Leben füllen lässt, in Bremen aber beispielsweise nicht.

Die Gründe nennt Jan Gehl in seinem neuen Buch „Städte für Menschen“. Der britische Architekt Richard Rogers bringt es in seinem Vorwort der rundum gelungenen Publikation auf den Punkt, wenn er schreibt: (Gehl) „…liefert uns hier die Instrumente, die wir benötigen, um stadtplanerische Entwürfe für öffentliche Stadtflächen zu optimieren und dadurch die Lebensqualität in unseren Städten zu verbessern.“ Dem dänischen Stadtplaner und Architekten Jan Gehl, den brand eins jüngst als den „Mann hinter dem Boom seiner Heimatstadt Kopenhagen, dem Umbau Moskaus und der Wiederbelebung Manhattans“ bezeichnete, ist mit diesem Buch nichts anderes als ein Standardwerk zum Thema gelungen. In klaren und präzisen Worten analysiert Gehl zunächst die Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung. Dabei schildert er – im Ton nie unverständlich oder verwissenschaftlicht –, wie wir unsere Umwelt begreifen, mit welchen Geschwindigkeiten wir uns zu Fuß oder im Auto durch die Stadt bewegen, wie groß und wohin gehend gerichtet unser Sichtfeld ist und schließlich, was daraus für die Gestaltung unserer Städte folgen müsste. Der Mensch als Ausgangspunkt und Maß für Stadt und Architektur.

Was bei anderen schon benannt wurde, aber oft etwas abstrakt blieb, wird hier konkret. Denn eigentlich ist es doch ganz einfach, meint der Autor: Menschen gehen dorthin, wo Menschen sind. In der Stadt passiert immer dort etwas, wo schon etwas passiert – wo nichts passiert, wird auch nichts passieren. Wo zwei Kinder spielen, finden sich bald weitere Kinder zum Spiel ein, wo zwei Alte auf der Bank sitzen und dem Treiben zusehen, finden sich bald weitere Menschen ein.

Die große Stärke des Buchs liegt in seiner Deutlichkeit. Sehr begreifbar benennt Gehl, welche städtebaulichen und architektonischen Eingriffe sich auf uns Menschen auswirken, was und wie funktioniert und welche Prozesse an anderer Stelle zum Scheitern verurteilt sind. Dabei betont er stets, dass es bei solchen Eingriffen nicht um ihre schiere Größe geht. Schon kleine Implementierungen können Resultate erzielen: Ob das nun die Aufwertung der Fassaden ganzer Blöcke sind, die Anbindung der unterschiedlichen Raumkompartimente auf dem Weg vom privaten des Zimmers ins öffentliche der Stadt, die Pflanzung von Bäumen oder „nur“ das Aufstellen einiger weniger Bänke, stets hat der Autor prägnante Beispiele mit den entsprechenden Zahlen bei der Hand. Wohltuend macht sich hier die Mischung der Publikation bemerkbar, die leicht nachvollziehbare Tabellen und charmant skizzierte Schaubilder mit einprägsamen Fotos verschiedener urbaner Situationen weltweit mit dem im Duktus angenehmen und nie trockenen Text kombiniert.

Richard Rogers formuliert die Relevanz des Raums und seiner Gestaltung im bereits erwähnten Vorwort so: „Alle Stadtbewohner sollten nicht nur Anspruch auf sauberes Trinkwasser haben, sondern auch auf frei zugängliche öffentliche Räume.  Allen sollte es möglich sein, aus ihren Fenstern mindestens einen Baum zu sehen, auf einer Bank auf einem Kinderspielplatz in der Nähe ihrer Wohnung zu sitzen, oder innerhalb von zehn Minuten einen Park zu Fuß erreichen zu können. Gut geplante Wohnviertel inspirieren ihre Bewohner, während schlecht geplante Städte ihre Einwohner ‚verwildern‘ lassen.“ Jan Gehl liefert mit diesem Buch nicht nur eine profunde Analyse der Stadt, sondern vor allem eine Anleitung dazu, diese von Rogers geforderte gute Planung der Stadt umzusetzen.

David Kasparek

Jan Gehl: Städte für Menschen, 304 S., zahlr. Abbildungen, gebunden, 32,– Euro, Jovis Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-86859-356-3

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