Buch der Woche: Architektur-Reportagen aus Polen

Zwischen Volksrepublik und Marktwirtschaft

Er war „das beste Beispiel für den internationalen Brutalismus der 1960er Jahre in Polen“, weiß der halbamtliche Kunstführer Dehio. Das half aber nicht: 2010/11 wurde der von Felix Candela inspirierte Bahnhof von Kattowitz abgerissen. Er war von den Architekten, die man die „Drei Warschauer Tiger“ nannte, bis 1972 errichtet worden. Das Dach der Bahnhofshalle bestand aus 16 Kelchen, die von je einer Sichtbetonstütze getragen wurden. Erst sollten die Kelche erhalten und in den Neubau integriert werden, dann gab es ein Gutachten, aus dem der Investor herauslas, die Bewehrung sei „von Rost zerfressen“. Diese Behauptung übernahm die zuständige Denkmalpflegerin ungeprüft, und der Bahnhof wurde zugunsten eines Einkaufszentrums mit Gleisanschluss eilig abgerissen.

Erst danach hat Polens oberster Denkmalschützer den Abriss als „vorschnell“ und „grobe Rechtsverletzung“ bezeichnet. Kunststück. Der eigentliche Grund für den Abriss aber war: der Dreck. Das zumindest weiß der Autor Filip Springer zu berichten. „Es besteht kein Zweifel, dass er bei den Reisenden einer der meistgehassten Bahnhöfe Polens war. Sein schmieriger und stinkender Charme wurde eifrigst von Filmemachern genutzt: Die Filme, in denen der Bahnhof die Rolle eines wahren Höllentors spielt, lassen sich kaum zählen.“

Filip Springer ist Anfang dreißig. Er arbeitet als Reporter und Fotograf für verschiedene polnische Medien. Mit „Kopfgeburten“ hat er eine ganz erstaunliche Sammlung von Architekturreportagen vorgelegt, die in vielen Fällen von hinten beginnen: mit dem Abriss. Der Ort dieser Bauten: die „Volksrepublik Polen“, wie es keck im Untertitel heißt. Der Übergang von der sozialistischen Volksrepublik in die Marktwirtschaft besiegelte für viele ambitionierte Bauten der Nachkriegsmoderne das Schicksal: Ungeliebt, mit Erinnerungen an Kommunismus und Mangelwirtschaft behaftet („hier gab’s nur Essig und Senf“), wurde zum Beispiel die Warschauer Markthalle „Supersam“ mit ihrem einmaligen Hängedach abgerissen, obwohl Teil-Mieter McDonald’s Polska für einen Erhalt plädiert hatte. Andere Gebäude hatten zufällig Glück: Der Warschauer Zentralbahnhof steht heute – renoviert und von Nachwende-Einbauten befreit – wieder stolz da. Er entging seinem Abriss nur, weil die Finanzwelt nach den Londoner Bankenskandalen zwischenzeitlich kalte Füße bekommen hatte.

Der Autor weiß solche Zusammenhänge anschaulich darzustellen. Er verknüpft die Geschichte des Baus dieser Gebäude mit der Biographie ihrer Architekten und wirft so ein Schlaglicht auf das Bauen in einer Mangelwirtschaft. Wenn es im Sozialismus nicht reichte, wurden Devisen in die Hand genommen und beispielsweise Rolltreppen und Automatiktüren im Westen bestellt, obwohl die niemand warten konnte. Hauptsache, das Gebäude wurde zu irgendeinem wichtigen Parteitag fertig.

Die Nachnutzungsgeschichte nach der Wende ist der zweite Schwerpunkt dieser Stücke. Die Sympathie gehört den beschriebenen Gebäuden, aber Filip Springer ist kein Eiferer oder Anprangerer. Wichtiger ist ihm die gute Geschichte. Die Zeitebenen werden dafür geschickt miteinander verwoben. Mit dieser versetzten Chronologie gelingt stellenweise etwas sehr Seltenes in der Architekturgeschichtsschreibung: Spannung.

Benedikt Hotze

Filip Springer: Kopfgeburten. Architekturreportagen aus der Volksrepublik Polen, 272 S., ca. 100 Abb., Softcover, 28, Euro, DOM Publishers, Berlin 2015, ISBN 978-3-86922-353-7

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