editorial

der platz

Majdan, Tahrir, Taksim. Orte der Empörung, der Begeisterung, der Trauer, der Resignation. Orte einer Weltgeschichte. Majdan Nesaleschnosti, Maidān at-Taḥrīr, Taksim Meydanı. Drei Plätze mit drei großen und unendlich vielen kleine Geschichten, auf denen Tausende von Schicksalen einen Lauf genommen haben, den ein Mensch in seinem Leben nicht vorhersehen kann. Wendepunkte.

Unbestritten sind es die Plätze, auf denen zuletzt große gesellschaftliche, soziale, politische oder religiöse Bewegungen ihren Ausdruck fanden. Nicht das Internet, sondern der Platz ist der Ort der Selbstvergewisserung der großen Menge, die dort, dicht gedrängt, sitzend, stehend, in Bewegung und Erregung, in der Versammlung, im Aufbruch, bedroht oder eingepfercht, die eigene Stärke durch eigene schiere Masse und die Lautstärke der skandierten Rufe und Pfiffe, der Buh-Rufe und des emotionalisierten Sprechens erleben kann. Der Erregungszustand der großen Ansammlung, der sich durch den unmittelbar wahrnehmbaren Ausstoß von Adrenalin und anderen Hormonen immer weiter zuspitzt, ist hierzulande fast nur noch in Fußballstadien, bei manchen Boxkämpfen oder beim Betrachten der Verfilmung von „Ben Hur“ nachzuvollziehen.

Doch was ist es eigentlich, was gerade die Plätze zu Kristallisationspunkten der Geschichte macht? Es kann nicht nur ihre bloße Größe sein, denn sonst eignete sich auch das freie Feld vor der Stadt für die gleiche Kundgebung. Es ist die Lage im Stadtgefüge, die strategische Position im städtischen Organismus. Der Tahrir liegt inmitten von Kairo, der Majdan im Herzen von Kiew, der Taksim ist der Treffpunkt einer sich als westlich-metropolitan verstehenden Generation jüngerer Türken. Eine Besetzung dieser Verkehrsknotenpunkte bedeutet immer auch eine Beeinträchtigung oder sogar Lähmung des städtischen Organismus’.

Und es ist die Konzentration auf diesen einen Fleck, den die umgebenden Platzwände bewirken, die präzise architektonische Definition des Ortes, der den Platz zum Forum, zum Schauplatz, zur Arena macht. Nicht von ungefähr liegt ein bis heute kritisierter Aspekt im Werk des Baron Haussman darin, solche Knotenpunkte im Paris des 19. Jahrhunderts aus ideologisch-militärischen Überlegungen entschärft zu haben. Für Gottfried Semper, der selber am Dresdner Aufstand von 1849 teilnahm und dort Barrikaden baute, war das Forum der selbstverständliche Ort des „freien Menschen“, der dort unter seinesgleichen seine Meinung äußern kann: „Ergebnis einer glücklichen Rückwirkung des erwachten Selbstgefühls gegen das Gefühl des unterwürfigen Aufgehens in die Gesamtheit unter vorherrschaftlicher Bevormundung“.

Platz der Unabhängigkeit, Platz der Befreiung. Immerhin zwei der drei übersetzten Namen zeigen diese symbolische Funktion des Platzes an. Auf dem dritten, dem türkischen „Platz des Wasserverteilers“ hat es schon 1977 ein Blutbad unter protestierenden Gewerkschaftern gegeben, das den Ort für die Istanbuler mit Bedeutung aufgeladen hat. Hierzulande hat sich die Frage nach dem Repräsentationsort des Volkes nie gestellt. Als sich am ersten Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn die Menschen die Nasen plattdrückten, wurden die zunächst verglasten Seitenwände vermauert: Soviel Öffentlichkeit wollte man wohl doch nicht. Die Bonner Hofgartenwiese wurde immerhin zum Symbol der Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss und der frühen Anti-AKW-Demos. Inzwischen wissen die deutschen Kommunen, wie man Demonstrationen so lenken kann, dass die „Hauptkundgebung“ sich folgenfrei irgendwo in der Peripherie der Stadt abspielt.

Seit dem Berlin-Umzug der Bundesregierung ist der Ort der Demokratie nur noch einmal verhandelt worden: Im Entwurf zum „Band des Bundes“ hat Axel Schultes ein „Forum der Demokratie“ am Kanzleramt geplant, das eine Art monumentaler Speakers´ Corner sein sollte. Bundeskanzler Kohl hat es verhindert, weil er sich sein Amt als herausgehobenen Solitär vorstellte. Seitdem ist die Demokratie ortlos – oder ubiquitär. Die Deutschen protestieren im Stuttgarter Schlossgarten, am Hamburger Steindamm oder in einer Seitenstraße in Sankt Pauli, die kurz darauf sinnlos zum „Gefahrengebiet“ erklärt wird. Sie protestieren mit „Die ins“ auf Zebrastreifen, mit „Guerilla Gardening“ und am Straßenpoller, der plötzlich über Nacht ein Strickmützchen bekommt. Die wahre Manifestation unserer „Mutti”-Demokratie im Spitzweg-Format ist das „Public Viewing“ am Brandenburger Tor, wenn die Nationalmannschaft spielt. Die Kunst und Kultur des Platzes jedoch scheint uns entfallen – und damit eine spezifische Form demokratischer Repräsentation.

Andreas Denk

Der BDA diskutiert über den „Ort der Demokratie“ zur Eröffnung der Biennale Venedig am 7. Juni 2014 im Deutschen Pavillon. Unter anderem nehmen teil: Claus Leggewie, Stefan Rettich, Heiner Farwick, Heinrich Wefing und Andreas Denk.

Foto: Andreas Denk

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