Eine Gratwanderung

Die Zukunft unserer Freiheit

Der Philosoph Jean-Pierre Wils klärt über die fundamentalen Missverständnisse auf, denen viele Gesellschaften mit Blick auf den Freiheitsbegriff aufsitzen. Nicht nur wird dabei oftmals das Netz an gesellschaftlichen Regeln und Einschränkungen ausgeblendet, das Voraussetzung ist für vermeintlich selbstverständliche Freiheiten, sondern auch die Unfreiheiten, die damit für Andere verbunden sind. Als Gegenentwurf zum Verständnis von Freiheit als Maximierung der individuellen Wahl- und Komsumfreiheit schlägt Wils ein Modell der kooperativen Freiheit vor.

Wer heute über Freiheit spricht, befindet sich unmittelbar in einer Kampfeszone. Während der durch die Covid-Pandemie bedingten Lockdowns wurde lautstark und manchmal mittels ostentativer Gewaltbereitschaft um die Bewahrung und Verteidigung der Freiheit gegen fast jede Form ihrer temporären Einschränkung gestritten. Offenbar fassen viele Bürger und Bürgerinnen ihre Freiheit als ein expansives Gut auf, als eine Lizenz zur Reichweitenvergrößerung ihrer Handlungen und der diesen zugrundeliegenden Ansprüche. Diesen Menschen ist der Gedanke fremd, dass unsere Handlungsfreiheit in Hinblick auf die Freiheit der anderen dosiert werden muss. Freiheitslizenzen setzen also Freiheitslimitationen voraus. Die Freiheit, in der wir leben, ist demnach das Ergebnis einer Kooperation und nicht einer Konfrontation zwecks Ausweitung der eigenen Freiheit. Nur wenn wir über Freiheits-Kooperationen nachdenken, wird unsere Freiheit bewohnbar bleiben, denn wir teilen dieses Haus mit unzähligen Mitbewohnern, von denen etliche nicht einmal geboren sind.

Drei Freiheitsverwirrungen

Wir wenden uns drei Freiheitsmissverständnissen zu.(1) Das Erste nennen wir das „naturalistische“ Missverständnis. Dem Philosophen Christoph Menke zufolge durchzieht die Moderne die Annahme, „dass der Mensch von Natur aus frei ist.“(2) Aus dieser Sicht werden wir gleichsam mit dem Merkmal der Freiheit geboren. Die Freiheit gehört zu unserer Ausstattung, gleichsam seit wir auf die Welt kommen. Wenn man in der Lage wäre, einen Neugeborenen zu fragen, was er für ein Wesen sei, würde er demzufolge sofort antworten: „ein freies Wesen“. Die Freiheit ist demnach keine Errungenschaft. Sie muss nicht erst erkämpft und erstritten werden, sondern stellt so etwas wie eine substanzielle Vorgabe dar – ein primäres Datum unserer Existenz. Seit unserer Geburt sind wir freiheitsnobilitierte Wesen. Diese Auffassung hat schwerwiegende Folgen: Wenn wir nämlich bereits frei sind, nämlich „von Natur aus“, dann verbleiben wir in all unseren Freiheitsbestrebungen im eigenen Radius. Sobald wir das Wort „Freiheit“ aussprechen, befinden wir uns in einem Raum ständiger Eigenresonanz. Es ist ein „stolzes Ich“, das frei ist und dies bleiben möchte. Es schwillt nicht selten zu einem „adipösen Ich“ an.

Diese Sichtweise, so Menke, sei „keine spekulative Extravaganz, auf die die Selbstauszeichnung moderner Gesellschaften als Gesellschaften der Freiheit auch verzichten könnte. Sie ist grundlegend für den modernen Freiheitsbegriff. Denn sie sagt aus, wie wir nach modernem Verständnis frei sind. Wir sind es von Natur aus.“(3) Die naturalistische Sicht beruht auf einem großen Vergessen. Sie hat die Geschichte des Kampfes um freiheitliche Verhältnisse eingeklammert. Statt eines Resultats wird die Freiheit als eine Vorgabe stilisiert. Sie wird als ein anthropologisches Faktum aufgefasst, das es erlaubt, die Herbeiführung von Freiheitsbedingungen als eine sekundäre Angelegenheit zu betrachten. Letztere liegen bereits in unserer Veranlagung, weshalb unsere Sorge vor allem ihrer „freien“ Entfaltung gelten soll.

Der Liberalismus krankt in dieser Sichtweise daran, dass er gleichsam in einer defensiven Haltung verharrt. Es gilt, das naturalistische Freiheitspotential zu verteidigen und möglichst unangetastet zu lassen. Das Wesentliche ist gewissermaßen bereits geleistet, und zwar „von Natur aus“. Weil sie zur Natur des Menschen gehört, hat die Freiheit einen überaus starken Individualitätsindex. Die Freiheitsräume des Einzelnen wollen maximal gehütet und geschützt sein. Dieser Defensivmaximalismus kontrastiert deshalb scharf mit einem Rechtfertigungsminimalismus.

Im Sog dieser Überzeugung schrumpft die Bereitschaft, Freiheitsbestrebungen zu rechtfertigen, denn für das, was man „von Natur aus“ ist, nämlich frei, muss man doch wohl keine Gründe angeben? Und in diese Freiheit „von Natur aus“ sollte möglichst wenig eingegriffen werden. Wenn man selbst sein eigener Resonanzkörper in Freiheitsangelegenheiten ist, gilt geradezu das Gegenteil. Diese Freiheit hat Reichweitenvergrößerung in ihrem Schlepptau. Sie will mehr, die „Freiheit von Natur aus“ möchte sich entfalten. Sie benutzt mit Vorliebe die Sprache subjektiver Rechte: Meine Optionen sollen nicht eingeschränkt werden. Freiheit heißt: für mich wollen können und das von mir Gewollte auch tun dürfen. Es ist damit „ein Subjekt des Eigenwillens“ entstanden, so Menke, stolz auf seine „Privatautonomie“.(4) Vor diesem Hintergrund schmilzt die Freiheit zur Entscheidungsfreiheit zusammen. Zu ihrem Zwecke aber müssen die Spielräume jenes „Eigenwillens“ so geräumig wie möglich ausfallen. Im Radar des Entscheidungsschirms sollten sich möglichst viele Optionen auftun und darf die Sichtweite auf diese nicht versperrt werden.

Das zweite Missverständnis nennen wir die „absolutistische“ Auffassung von Freiheit. Diese besagt, dass die Freiheit ein Eigentum einer Person ist und demnach im Grunde unteilbar. Sie ist etwas, das man besitzt oder nicht besitzt. Und das Eigentum hat bekanntlich den Nimbus des nahezu Unantastbaren. Es ist das isolierte Individuum, das sich hier zu Wort meldet, und der Meinung ist, über eine solche Freiheit zu verfügen. Wie bereits bei dem naturalistischen“ Freiheitsbegriff, den wir gerade kennengelernt haben, gibt es auch hier eine große Abstraktion. Es wird über Freiheit geredet, indem der mühsame Weg der Emanzipation aus Abhängigkeit und Unterdrückung, aus sozialer Not und politischer Bevormundung erneut außer Sicht geraten ist. Die Freiheit ist zum Gegenstück des Sozialen, zum Widerpart von Solidarpflichten, zu einem Fluchtreflex angesichts der sich manifestierenden Ansprüche anderer geworden.

Es ist diesen Einzelnen offenbar fremd geworden, dass unsere Handlungsfreiheit, unsere Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit allesamt einem komplexen Netzwerk von Erlaubnissen und Verboten, von Lizenzen und Limitierungen zu verdanken sind, ohne welches alle diese Freiheitsäußerungen zugrunde gingen. Wenn Freiheit nur in einem solchen Ensemble von Abstufungen und Abwägungen, von normativen Gesten des Gebens und des Nehmens, von Ansprüchen und Verzichten gedeihen kann, muss der Absolutismus verabschiedet werden.

Der Jurist und Rechtsphilosoph Christoph Möllers spricht in diesem Zusammenhang deshalb von „Freiheitsgraden“, also von einem Gradualismus in Freiheitsangelegenheiten. Freiheit ist demzufolge nicht in die dichotome Logik eines Entweder-Oder übersetzbar. Man ist nicht entweder im Besitz nahezu schrankenloser Freiheit oder gänzlich unfrei. Man ist nicht das alleinige Subjekt seiner Freiheit, das unbehelligt durch andere seine Freiheitsrechte bis zur Neige auskosten kann und diese als seinen kostbaren Alleinbesitz bezeichnen darf. Anders als im oben skizzierten „Naturalismus“ wird Freiheit hier nicht als etwas Ursprüngliches oder Erstgegebenes verstanden. Im Gegenteil – diese Freiheit ist erkämpft worden. Aber dies geschah alles en faveur der individuellen Freiheit, die gleichsam als ein überaus wertvoller Besitz aus jenen Streitigkeiten hervorgegangen ist.

Es gäbe, so sagt Möllers, „keinen Primat der individuellen vor der gemeinschaftlichen Freiheit, schon weil sich auch Individualität nur als soziales Phänomen beschreiben lässt, noch dazu als eines, das sich nicht alle wünschen. Beide Arten von Freiheit sind deswegen politische Freiheiten.“(5) Das „absolutistische“ Missverständnis leidet demnach an einer tiefen Politik- und Sozialvergessenheit, an einem gravierenden Gedächtnisverlust hinsichtlich der Vorleistungen, die andere erbringen müssen, also gezwungen sind zu erbringen, damit jeder Einzelne von uns frei sein kann. Die absolutistische Freiheit gleicht einem Phantasma, einer ersonnenen Berufungsinstanz, einer kalten Fiktion.

Die Verwechslung von Freiheit mit Eigensinn übersieht – mutwillig oder nicht –, dass nur ein Freiheitsgradualismus, also eine Abstufung freiheitlicher Praktiken, dieses hohe Gut im Leben garantieren kann. Das Maß an Einschränkungen muss dabei jederzeit politisch, zumindest in Demokratien, verhandelbar sein. Wer so denkt und handelt, hat jegliches Gespür für die freiheitseinschränkenden Folgen seines Handelns verloren, erst recht für die Vorstellung, Limitationen könnten womöglich freiheitsfördernd sein. „Nicht erst mit der Erfahrung der Pandemie erscheint es seltsam, öffentliche Regulierungen zum Aufhalten der Erderwärmung als bloße Freiheitsbeschränkungen zu verstehen. Denn um Freiheit geht es offensichtlich auch bei der Lösung der Klimakrise, die ein unüberschaubares Maß an Unfreiheit zu bringen droht. Man könnte eine Klimapolitik, die Rechte einschränkt, auch als Entscheidung für eine kontrollierte und gegen eine unkontrollierte Beschränkung von Freiheit verstehen.“(6)

„Es ist diesen Einzelnen offenbar fremd geworden, dass unsere Handlungsfreiheit, unsere Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit allesamt einem komplexen Netzwerk von Erlaubnissen und Verboten, von Lizenzen und Limitierungen zu verdanken sind, ohne welches alle diese Freiheitsäußerungen zugrunde gingen.“ Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Hans-Peter Bärtschi, CC BY-SA 4.0

Gewiss, Freiheit ist ein hohes persönliches Gut. Darüber hinaus ist sie ein starker Grund und ein kräftiges Motiv für Bewegung und Veränderung, aber sie ist ebenso auf Strukturen aufgebaut und von diesen getragen. „Freiheit ist immer auf institutionelle Verfestigung angewiesen. Freiräume müssen konstituiert werden, und das, was sie konstituiert, konstituiert Bindungen“(7), so Möllers. Und Rechte korrespondieren mit Pflichten, nicht immer und in jedem Fall, aber ohne das Austarieren dieser beiden normativen Aspekte unseres Handelns geraten wir in eine Freiheitsschieflage, die dazu neigt, die Freiheit entgleisen zu lassen. Die „Freiheit“ ist eingebettet in ein Gravitationsfeld der Gegenseitigkeit und der Ausbalancierung von Ansprüchen.
Für das dritte und letzte Missverständnis haben wir den Begriff des „Negativismus“ gewählt. Er ist erläuterungsbedürftig. In seiner Schrift „Minima Moralia“ hatte Theodor W. Adorno von der „Freiheit“ behauptet, diese habe „sich in die reine Negativität zurückgezogen.“(8) Die Zeitverhältnisse waren damals ganz andere. In diesen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ – erstmals im Jahr 1951 publiziert – pochte noch das Grauen angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber auch die zahllosen Morde, die im Einflussbereich des blutroten Kommunismus geschehen waren (und weiterhin geschahen), hatten die Stimmung von Adornos Gedanken düster eingefärbt. Nicht einmal der Kapitalismus schien das Stigma, totalitäre Züge anzunehmen, abschütteln zu können. Das Leben vollzog sich, so Adornos Diagnose, unter dem Fluch eines alles zermalmenden Totalitarismus. Der Einzelne befand sich deshalb in totaler Bedrängnis, im Rückzug auf einen Restbezirk bloßen Überlebens inmitten einer opaken Welt. Das meinte Adorno, als er über „die reine Negativität“ sprach.

Nicht nur von dieser Diagnostik, sondern auch von ihrer philosophischen Einrahmung ist man heute meilenweit entfernt. „Autonomie“ ist längst zu einer Königskategorie der Selbstermächtigung geworden. Und die Vorstellung, dass der Einzelne „das Gattungswesen Mensch“ zu seiner Verwirklichung in sich trägt, erntet vermutlich Achselzucken. Die Vorzeichen haben sich nämlich gewandelt. Aus der „Negativität“ wurde die „negative Freiheit“. Dieser können wir vieles abgewinnen. Sie wurde zum Lieblingskind des Liberalismus. Nicht Rückzug, sondern Entfaltung, nicht Furcht, sondern Fröhlichkeit, nicht Unsichtbarkeit, sondern Performanz ist nun an der Tagesordnung. Die berühmte Unterscheidung zwischen „negativer“ und „positiver“ Freiheit ist unauflöslich mit dem Namen von Isaiah Berlin verbunden. Was ist mit dieser Gegenüberstellung gemeint? Die sogenannte „negative“ Freiheit ist mit der folgenden Frage verknüpft: „In welchem Bereich muss (oder soll) man das Subjekt – einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen – sein und tun lassen, wozu es imstande ist, ohne dass sich andere Menschen einmischen?“ Die „positive“ Freiheit ist mit der Frage assoziiert: „Von was oder von wem geht die Kontrolle oder Einmischung aus, die jemanden dazu bringen kann, dieses zu tun oder zu sein und nicht jenes andere?“(9)
Berlin schlägt sich eindeutig auf die Seite der „negativen“ Freiheit, denn mit dem Gedanken einer „positiven“ Freiheit, also einer, die Menschen in die Richtung eines bestimmten Ziels zur Verwirklichung ihrer Anlagen oder Projekte lenkt, verbindet dieser Philosoph eine tendenziell totalitäre Konsequenz. Wo unsere Bestrebungen auf das Gleis eines Gemeinschaftsunterfangens umgeleitet werden, sieht Berlin eine Freiheitssackgasse auftauchen. Vor allem radikal-liberale Strömungen – die sogenannten „Libertären“, die für ein Maximum an persönlicher Freiheit und für ein Minimum an öffentlichen Interventionen in allen Lebensbereichen plädieren – haben sich oft auf Berlin berufen. Diese Radikal-Liberalen huldigen einem „Negativismus“ der Freiheit, der es erlaubt, die eigenen Freiheitsräume maximal auszudehnen, sich am Ende aber kaum noch von dem Recht des Stärkeren unterscheidet.

Anders als diese Libertären war Berlin jedoch nicht der Meinung, dass die „negative“ Freiheit gleichsam schrankenlos ist. Auch wenn er manchmal und nicht ohne rhetorisches Geschick behauptete, diese beiden Freiheitsauffassungen seien „grundverschiedene, unvereinbare Einstellungen zu den Zielen des Lebens“(10), war er sich sehr wohl bewusst, dass in den konkreten Umständen persönlicher, aber auch ökonomischer und politischer Entscheidungsfindungen Wasser in den Freiheitswein geschüttet werden muss. Es bleibe wahr, so Berlin, „dass bisweilen die Freiheit einiger beschränkt werden muss, um die Freiheit anderer zu sichern. Nach welchem Prinzip kann das geschehen? Wenn die Freiheit ein heiliger, unantastbarer Wert ist, kann es ein solches Prinzip nicht geben. Eines der widerstreitenden Prinzipien muss – jedenfalls in der Praxis – nachgeben. (…) Ein praktischer Kompromiss muss gefunden werden.“(11) Das wird immer schwerer, sobald Menschen ihre persönliche Freiheit wie einen Fetisch vor sich hertragen und jeden Kompromiss als Zumutung von sich weisen. Allein schon das Ansinnen, über Einschränkungen nachzudenken, erfahren sie als eine Kränkung, als Übergriff totalitären Ursprungs.(12)

In der Schrankenlosigkeit

Unsere Spätmoderne favorisiert starke Subjekte, die sich den Herausforderungen permanenter Konkurrenz, auf die eigene Biografie bezogener Korrekturoffenheit und flexibler Anpassung an die Umstände stellen. Sie sollen sich als fleißige Ausbeuter ihrer eigenen Ressourcen verstehen, als Verkörperung eines nicht nachlassenden Aktivismus, als begabte Performer, als Athleten der Umgestaltung ihrer selbst und ihrer Umwelt. Maximen der Selbstzurücknahme, des Lassens, der Einschränkung und der kooperativen Abstimmung über die Grenzen ihrer Reichweitenvergrößerung sind ihnen eher fremd. Dabei drohen sie zu vergessen, dass jene expansive Haltung keineswegs das Ergebnis ihrer Entscheidungsfreiheit darstellt. „Das Individuum“, so der Soziologe Andreas Reckwitz, ist „keine autonome Einheit, sondern ein gesellschaftliches Produkt“(13). Und es wäre nicht verkehrt, in diesem Zusammenhang von einer großen Transformation zu sprechen.

Die Transformation stellt das Ergebnis einer Loslösung aus sozialen Bindungen und Rücksichten dar. Die Soziologin Eva Illouz spricht in diesem Zusammenhang von der „Auflösung der sozialen Form“. Dieser Erosion von Lebensweisen der Zugehörigkeit und Solidarität kommen wir jedoch nicht näher, wenn wir sie ausschließlich in negativen Kategorien wie „Entfremdung“ oder „Ausbeutung“ interpretieren. Es sind ihr zufolge nicht zuletzt positive Kategorien, „die den imaginären Kern der kapitalistischen Subjektivität ausmachen, wie die Gebote, autonom und frei zu sein, seine verborgenen Potentiale auszuschöpfen, die eigene Lust, Gesundheit und Produktivität zu optimieren.“(14)

Zu den Faktoren dieses Vorgangs zählt Verschiedenes, nicht zuletzt die Idealbilder, die uns zur Orientierung dienen. Reckwitz hat vielfach darauf hingewiesen, dass wir spätmodernen Individuen Bewohner einer Kultur der permanenten Selbststilisierung sind. Wir wollen (und sollen) uns selbst verwirklichen, und dazu stehen uns Marker zur Verfügung, die da lauten: „Emotionale Intensität“, „Authentizität“ und „Kreativität“. Darüber hinaus lockt uns das Leitbild der Selbstoptimierung, das manchen von uns bereits buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Leben lang sind wir Unternehmer – Unternehmer in eigener Sache, also ein „unternehmerisches Selbst“(15), wie Ulrich Bröckling sagt.

„Der Liberalismus krankt in dieser Sichtweise daran, dass er gleichsam in einer defensiven Haltung verharrt. Es gilt, das naturalistische Freiheitspotential zu verteidigen und möglichst unangetastet zu lassen.“, Amazons Fulfillment-Center in Dunfermline, Foto: Chris Watt, Scottish Government, CC BY 2.0

Die genannte Optionsvielfalt lässt im Grunde das Gefühl des Ungesättigt-Seins entstehen. Womöglich hat man eine Option ausgelassen, ein Konsumgut verpasst, eine Chance verstreichen lassen, eine Gelegenheit nicht wahrgenommen. Die Berieselung durch die Botschaft, das Optimum sei noch längst nicht erreicht und es lockten weitere – optionsbedingte und noch intensivere – Erlebnisse, hat schwerwiegende psychosoziale Folgen. Uns beschleicht das Gefühl, hinter unseren Möglichkeiten zurückzubleiben, nicht alles in die Waagschale zu werfen, den Standards nicht zu entsprechen. Bereits vor mehr als drei Jahrzehnten hatte der US-amerikanische Soziologe Kenneth Gergen auf den Umstand hingewiesen, dass sich auf der Rückseite der fröhlichen Optimierungsrhetorik eine dunkle Atmosphäre ausbreite, nämlich das Gefühl, im Defizitmodus zu leben. Es sei auffällig, so stellte Gergen schon damals fest, in welchem Maße wir uns selbst mit Kategorien wie „unzulänglich“, „problematisch“ oder „unfähig“ beschreiben.(16) Und dies sei gerade die Folge eines Gefühls der Übersättigung, eines überfüllten Gefäßes an Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen.

Aber die obere Seite der Medaille – ihre helle Seite – hält uns auf Trab und die Ökonomie am Laufen, indem gewissermaßen ein künstliches Hungergefühl erzeugt wird. Auf der hellen Seite wird uns vorgespiegelt, wir seien geradezu „exzessiv frei“ und unser Hunger sei hier noch längst nicht gestillt. Auf der düsteren Seite beschleicht uns aber das zunehmend bange Gefühl, wir würden nicht mehr „können können“. Wäre es denkbar, dass viele von uns jenes Hungergefühl mit „Freiheit“ verwechseln? Wäre der Gedanke zu gewagt, dass wir zwischen Erlebnisvermehrung und Freiheitsvermehrung nicht mehr unterscheiden können? Hat Byung-Chul Han nicht recht, wenn er beklagt, dass die Freiheit der Handlung herabgesunken ist zu einer bloßen Wahl- und Konsumfreiheit?(17) Gehen wir der Vorstellung aus dem Wege, die Strapazierung unserer Multioptionsmentalität, die umfassend mit Konsumversprechen gefüttert wird, sei der Grund eines bedrückenden Gefühls, ständig zu müssen? Und führt dieses Gefühl nicht zu dem Kurzschluss, es sei an Freiheit nicht genug vorhanden? Wird die Freiheitsvermehrung solchermaßen nicht ihrerseits zu einem Muss? Müssen wir immer mehr von dieser schalen Freiheit haben müssen?

Es sind darüber hinaus die zahllosen Anderen außer Sicht geraten, die erhebliche Vorleistungen erbringen, damit wir „frei“ sein können. Wir sind in Unkenntnis des Sachverhalts geraten, dass unsere Freiheit auf Verbindlichkeiten und Rücksichten beruht, auf Kompromissen und Zusammenarbeit, also letztlich auf der Zivilisierung unserer Ansprüche. Es triumphiert das Prinzip des Isolationismus, es schwindet das der Kooperation. Schlimmer noch: Uns scheinen diese Anderen gleichgültig geworden zu sein. Die Erschöpfung und Demoralisierung der Pflegekräfte und des medizinischen Personals lassen uns kalt. Deren Leiden sind schließlich nicht unsere Leiden, deren Klagen dürfen getrost und ungehört, also ohne Tröstung verhallen. In unseren Ohren klingen sie wie Schall und Rauch. Wo kämen wir hin, wenn wir auf die Idee verfielen, die Anderen in unser Tun und Lassen, in unsere Freiheitsambitionen einzubeziehen?

Änderung der Blickrichtung

Auf genau diese Idee sollten wir jedoch verfallen. Wir sollten uns daran erinnern, dass Freiheit ein Beziehungswort ist, eine Vokabel, die auf Einbindung, auf Rücksichtnahme, auf Zusammenarbeit hinweist. Sie liegt unseren Beziehungen nicht bereits zugrunde, sondern stellt deren Resultat dar, das Ergebnis von Kommunikation und Kooperation. Unsere Freiheit wird auch in Zukunft kommunikativ und kooperativ sein – oder sie wird nicht sein. Und auch unsere Grundrechte, die durch die Verfassung verbrieft sind, müssen jeweils abgewogen und – umständehalber – in ein rechtes Verhältnis gerückt werden. Da gibt es keine Hierarchie, an deren Spitze unangefochten die individuelle Freiheit stünde. Am wichtigsten wäre vermutlich die Bereitschaft, unser Handeln und damit unsere Freiheitsansprüche immer wieder auf die Leiden der Anderen zu beziehen, denn kein geringer Teil davon hat mit uns zu tun, mit unseren Freiheitsverlangen. Es wird auf die Kunst der Temperierung unserer Ansprüche, auf deren Zivilisierung in zukunftsdienlicher Absicht ankommen. Wir können nur gemeinsam frei sein.

Diese Änderung der Blickrichtung wird uns alles abverlangen. Die Architekten und die Architektinnen werden die buchstäblichen Baumeister dieser Transformation sein. Das Haus darf nicht länger zum Defensivraum der bedrängten Bürger, zum Illusionsraum der verängstigten Bürgerinnen stilisiert werden. Die Wohnung ist nicht der Ort einer anorektischen Utopie unbedrängten Daseins, keine weltabgewandte Insel bloß privaten Wohlbefindens, kein Demons­trationsobjekt privater Kreativität und sozialer Distinktion. „Der Einzige und sein Eigentum“ (Max Stirner) wird nicht die Kurzformel der Zukunft sein, sondern deren Verhinderung. Von den Palästen baulicher Exzesse werden wir Abschied nehmen müssen, denn es gibt zu viele, die noch in Hütten leben. Wie gesagt, wir können nur gemeinsam frei sein.

Prof. Dr. Jean-Pierre Wils ist Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud-Universität Nijmegen (Niederlande) und Herausgeber der „Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik“ (Hirzel, Stuttgart) und Mitglied im Deutschen PEN. Jüngere Publikationen: „Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?“ (2021), „Der Große Riss. Wie unsere Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen“ (2022), „Weggabelungen in Sicht. Kleine Anthropologie des Lassens in erregten Zeiten“ (2022), „Warum Menschen Trost brauchen. Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“ (2023).

Fußnoten

1 Zu diesen drei Freiheitsmissverständnissen siehe auch: Jean-Pierre Wils, Schale Freiheit – Plädoyer für ein Innehalten, in: Weggabelungen in Sicht.
Kleine Anthropologie des Lassens in erregten Zeiten, Basel 2022, S. 91 – 108.

2 Christoph Menke, Die Lehre des Exodus. Der Auszug aus der Knechtschaft, in: Am Tag der Krise. Kolumnen, Berlin 2018, S. 77 – 93; S. 78.

3 Ebd.

4 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 254f.

5 Christoph Möllers, Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik, Berlin 2020, S. 58.

6 Ebd. S. 267.

7 Ebd. S. 61.

8 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften Band 4, Berlin 1980, S. 41.

9 Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, in: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. Main 1995, S. 197 – 256; S. 201.

10 Ebd. S. 249.

11 Ebd. S. 206.

12 Vgl. Caroline Amlinger / Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022.

13 Andreas Reckwitz, Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur, in: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 203 – 238, S. 206.

14 Iva Illouz, Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin 2018, S. 43.

15 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. Main 2007.

16 Kenneth J. Gergen, Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben, Heidelberg 1996, S. 41f.

17 Byung-Chul Han, Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin 2021, S. 17.

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