Warum der öffentliche Raum zeigt, wie zeitgemäß eine Stadt ist

Die Rückkehr der Freiheit in den öffentlichen Raum

Rund 80 Prozent der europäischen Bevölkerung lebt in Städten. Wo sonst also kann sich der notwendige Wandel zu neuen Wirtschaftsformen und Lebensstilen vollziehen, fragt der Stadtplaner Martin Aarts. Er war dreißig Jahre lang für die Stadt Rotterdam tätig, davon zwölf Jahre als Leiter des Stadtplanungsamts, und hatte bedeutenden Anteil an der Umgestaltung der Rotterdamer Innenstadt. Aarts stellt fest, dass der Wandel in den komplexen Biotopen der Städte meist mit großer Begeisterung aufgenommen wird. Die Gestaltung des öffentlichen Raums spielt laut Aarts eine entscheidende Rolle, denn mehr noch als die Architektur veranschauliche sie die Beweglichkeit der Stadt und ihrer Bewohnenden. Städte, die sich nicht verändern, gingen dagegen das Risiko ein, als überkommen und altmodisch wahrgenommen werden.

Im Jahr 1984 begann ich als Stadtplaner in Rotterdam zu arbeiten. Wie so viele Städte dieser Zeit war Rotterdam unterteilt in Gebäude, Parks, Plätze und Verkehrsflächen. Es waren die letzten Tage des Wiederaufbaus – die ganze Aufmerksamkeit galt der Stadterweiterung. Erst 2007 wurde in Rotterdam mit der veröffentlichten „Stadtvision“ ein Paradigmenwechsel möglich. Ein entscheidender Punkt dieser Vision war die Fokussierung auf die bestehende Stadt, denn zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Erfahrung gemacht, dass es nicht möglich ist, gleichzeitig in die Erweiterung der Stadt und die Verbesserung der bestehenden Stadt zu investieren. Diese Entscheidung brachte im Stadtzentrum, dem es damals – vorsichtig ausgedrückt – noch an Prestige fehlte, eine überraschend gute Entwicklung in Gang. Dabei ging es, neben der Nachverdichtung mit Wohnungen, auch darum, den öffentlichen Raum neu zu denken, denn hier konnte die Stadt vieles selbst organisieren. Und so begann sie damit, Parkplätze verschwinden zu lassen und das Flussufer – nach Pariser Vorbild – in ein Erholungsgebiet zu verwandeln. Auch beim Bau des neuen Hauptbahnhofs kam eine neue Auffassung des öffentlichen Raums zum Ausdruck: Das Bahnhofsviertel, das fast nur aus Bürogebäuden bestand, wurde durch den Bau zahlreicher Wohnungen in ein neues Stadtviertel umgewandelt. Beim Konzept des Hauptbahnhofs selbst vollzog sich ebenfalls ein Paradigmenwechsel: Es ging nicht mehr ausschließlich darum, einen perfekten Mobilitätsknotenpunkt zu schaffen, sondern darum, die Reisenden beim Ankommen in der Stadt zu Fußgängerinnen, zu Flaneuren werden zu lassen. Die Autostadt Rotterdam wurde damit Schritt für Schritt in eine Stadt für Menschen umgewandelt.

Ze Hielden Koers Park, Rotterdam, Dîner en blanc, Foto: Sander Lap

2014 wurden mehrere große Projekte gleichzeitig fertiggestellt, darunter der Hauptbahnhof (Team CS), die Markthalle (MVRDV) und De Rotterdam (OMA). Es schien zunächst, als wären es diese ikonischen Gebäude, die der Stadt plötzlich Aufmerksamkeit verschaffen würden. Doch gleichzeitig war es der beispiellose Wandel von einem tristen zu einem lebendigen Stadtzentrum, der die Presse dazu veranlasste, die Stadt als neue Entdeckung anzupreisen. Rotterdam war plötzlich hip. 2015 wurde sie sogar zur „Europäischen Stadt des Jahres“ gekürt.

Zwar hatte bereits der erste Schub der Rotterdamer Verkehrswende mit dem Klimawandel zu tun, doch durch das Pariser Abkommen von 2015 und die europäischen Stellungnahmen zur Bedeutung lebenswichtiger Infrastruktur sowie Boden und Wasser, kam die Erkenntnis, dass dies erst der Anfang ist. Es war Zeit für eine neue Vision. So baten wir zum Auftakt der Gründung der Metropolregion Rotterdam-Den Haag den Ökonomen Jeremy Rifkin, uns bei der Formulierung einer neuen Zukunftsvorstellung zu helfen. Das Statement, das er uns daraufhin verfasste, verwies auf den globalen Kontext: „Der Klimawandel, das Bevölkerungswachstum in den Städten, die Digitalisierung und die drohende Erschöpfung natürlicher Ressourcen führt dazu, dass die westlichen Wirtschaften und Lebensstile infrage gestellt werden und sich verändern.“ Doch wie lässt sich das bei der Planung von Städten berücksichtigen?

Planungen zur Umgestaltung der Avenue des Champs-Élysées zu einem „außerordentlichen Garten“, wie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo im Januar 2021 ankündigte, Blick vom Arc de Triomphe in Richtung Place de la Concorde, Abb.: PCA-Stream

Natürlich geht es immer noch darum, die Städte attraktiver zu machen. Gleichzeitig sind wir uns als Planerinnen und Planer zum ersten Mal seit langer Zeit bewusst, dass wir nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Deshalb ist es wichtiger geworden, Dinge auszuprobieren und von anderen Städten zu lernen. Denn gelungene Versuche lassen sich bereits an vielen Orten beobachten. So etwa die mutige Umgestaltung des zentral gelegenen Sweta-Nedelja-Platzes in Sofia durch Studio Fuksas, der einst voller Autos war und bald ein Treffpunkt für die Bewohnerinnen und Bewohner wird. In Barcelona wiederum gibt es die mittlerweile sehr bekannten Versuche der Superblocks. Nun will die Stadt noch weiter gehen und mit einem neuen Ansatz der Grünflächenbewirtschaftung zu einer grünen „Oasenstadt“ werden. Dies ist Teil des nachhaltigen Engagements Barcelonas für die Erhaltung der biologischen Vielfalt durch Maßnahmen, die Wasser, Energie, Material und öffentliche Gelder sparen. Auch Paris nimmt eine Vorreiterrolle ein: Seit 2014 wurden hier 700 Kilometer Radwege und 15.000 Straßenbäume gepflanzt, die Straßen wurden dadurch schmaler, die Gehwege und die Plätze breiter und größer. Zudem hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo grünes Licht für ein 265-Millionen-Euro-Programm zur Umgestaltung der Avenue des Champs-Élysées in einen „außergewöhnlichen Garten“ gegeben. Es geht dabei – und das ist entscheidend – nicht um die Umgestaltung irgendeiner Straße, sondern der berühmtesten Straße von Paris.

Der Bau von Straßen für Autos schien früher nie Probleme und Protest verursacht zu haben. Doch wie sieht es mit der Umkehr dieses Zustands aus? Oft gibt es bei Projekten etwa 40 Prozent Gegner, 40 Prozent Befürworter und 20 Prozent Personen, die sich nicht sicher sind. Anne Hidalgo hat deshalb die Frage gestellt: „Wie wäre es, wenn wir anstelle der 40 Prozent Gegner den 60 Prozent Befürwortern eine Chance geben würden?“ Denn sind Projekte erst einmal umgesetzt, möchte meist niemand mehr zum vorherigen Zustand zurückkehren und diejenigen, die vorher unsicher waren, sind zu Befürwortern geworden. So würde vermutlich niemand fordern, das Ufer der Seine wieder an die Autofahrer zurückzugeben. Ausgehend von dieser Feststellung sind in Paris innerhalb kurzer Zeit viele öffentliche Räume geschaffen worden. Die genannten europäischen Beispiele zeigen, dass der enorme Raum, den Autos heute in unseren Städten einnehmen, in Zukunft für Radfahrer, Fußgänger, spielende Kinder, Bäume und Pflanzen zur Verfügung stehen wird. Das bedeutet auch, dass an die Stelle von Verkehrsfachleuten Expertinnen und Experten aus Ökologie und Architektur treten werden.

PCA-Stream, Planungen zur Umgestaltung der Avenue des Champs-Élysées zu einem „außerordentlichen Garten“, für die 265 Millionen Euro bereitgestellt werden, Abb.: PCA-Stream

Der öffentliche Raum trägt nicht nur zur Veränderung von Lebensstilen bei, sondern wirkt sich auch auf die Attraktivität der städtischen Wirtschaft aus. Denn Unternehmen, insbesondere aus der innovativen Wirtschaft, siedeln sich zunehmend dort an, wo ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne leben wollen. Die Ökonomin Saskia Sassen warnte bereits 2014 vor einer Untätigkeit der Städte, denn: Viele Metropolen und Städte würden zwar die nationale Ebene überschreiten und seien auf diesem Wege Teil einer globalen Wirtschaft geworden. Die Städte könnten aber auch genauso an Bedeutung verlieren, wenn sie sich nicht weiterentwickeln. Doch was heißt weiterentwickeln? Hierauf liefert möglicherweise Mariana Mazzucato eine Antwort. Sie erklärt in ihrem Buch „The Value of Everything: Making and Taking in the Global Economy“, dass dies eine Neuausrichtung der gesamten Wirtschaft, eine Umstellung der Produktion, des Vertriebs und des Verbrauchs in allen Sektoren erfordere. Oder anders ausgedrückt: eine klare Vorstellung davon, was eine „grünes“ Leben bedeutet.

Um herauszufinden, was ein „grüner Lebensstil“ bedeutet, sollten die europäischen Städte sich einander herausfordern, stimulieren und miteinander wetteifern, damit sich Innovation einstellen kann. Zeichen zu setzen – wie etwa die Umwidmung einer Verkehrsstraße in eine Fußgängerzone – ist dabei wichtig, aber im besten Fall sind dies Vorboten für einen wirklichen Systemwandel. Was das bedeutet, verdeutlicht beispielsweise die Stadt Kopenhagen. Denn dort wurde erkannt, dass es nicht reicht, hier und da einen Radweg oder eine Brücke für Radfahrer zu bauen, sondern, dass für einen wirklichen Wandel alle Maßnahmen und städtischen Veränderungen zusammenpassen und ineinandergreifen müssen. So ist man in Kopenhagen mit dem Fahrrad schneller als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Zudem zeigt die Stadt auf inspirierende Art und Weise, wie der öffentliche Raum auf unterschiedlichste Weise genutzt wird. Damit wird klar, in welche Richtung die Stadt sich entwickelt: in die Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft. Kopenhagen macht also am öffentlichen Raum ablesbar, wie zeitgemäß die Stadt ist. Die Vorreiterrolle in Sachen städtischer Nachhaltigkeit ist dabei nicht der einzige Grund, warum junge Architektinnen und Architekten nach Kopenhagen strömen: Architektur, Restaurants, Technologie – alles hat Spitzenqualität.

Städte bergen großes Potenzial, Menschen ein glückliches Leben zu ermöglichen. Die Anziehungskraft hat zum einen mit Architektur und Städtebau zu tun. Eine groß angelegte Gallup-Umfrage hat jedoch gezeigt, dass es um mehr geht: um die Leichtigkeit, mit der in Städten Menschen einander treffen, Freundschaften schließen und Anschluss in sozialen Netzwerken finden können. Und nicht zuletzt ist es die Vielfalt, Offenheit undToleranz, die das Leben in vielen Städten auszeichnet. Es ist wichtig, dass gerade der öffentliche Raum dies in jeder erdenklichen Weise erleichtert.

Umgestaltung des Zentrums von Rotterdam-Süd, 2022: Der Platz vor dem Bahnhof wurde in eine Zone für Fußgänger umgewandelt. Öffentliche und kulturelle Funktionen schaffen ein lebendiges Quartier, darunter ein Schwimmbad, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum mit Theater und ein Stadtladen (Kraaijvanger Architects), Foto: Lars van der Brink

So wie Humboldt über die Natur feststellt, dass „alles mit allem zusammenhängt“, gilt dies auch für Städte. Die europäischen Städte sind sich bewusst, dass sich die Wirtschaft und der westliche Lebensstil verändert haben. Die Städte werden alle Register ziehen müssen, um an der Spitze zu stehen, und sei es nur, um dauerhaft Talente anzuziehen – eine neue Generation, die sinnvolle Arbeit mit einem gesunden Lebensstil verbinden möchte. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass die Freizeitnutzung des öffentlichen Raums heute die neue Normalität ist. Ein pulsierendes Nachtleben allein wird nicht ausreichen. Eine sichtbar einladende Stadt ist daher überlebenswichtig.

Martin Aarts arbeitete von 1984 bis 2017, also mehr als dreißig Jahre, für die Stadt Rotterdam, davon die letzten zwölf Jahre als Leiter der Abteilung Stadtentwicklung. In dieser Position war er für den Wiederaufbau der Innenstadt verantwortlich. Unter seiner Verantwortung wurden Studien durchgeführt, unter anderem zur Verdichtung und Begrünung der Innenstadt, zur Zukunft alter Hafengebiete und zum Maritimen Cluster. Er war Berater für die Niederländische Umweltvision (NOVI) und ist seit 2019 Leiter von Setting-the-stage. Er unterrichtet an der Akademie für Architektur in Rotterdam und Amsterdam.

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