Jürgen Hasse

Drinnen und draußen

Über die Zugänglichkeit räumlicher Situationen

„Drinnen“ ist man in der Wohnung, der Küche und dem Garten – aber auch in seinem Spiegelbild sowie in der Welt eigener Gedanken und Gefühle. „Draußen“ ist man vor der Tür, außerhalb des Zimmers, des Hauses, der Stadt und auf der Straße – aber auch in der Fremde und am Katzentisch. In einem alttestamentarischen Klagelied heißt es: „Draußen raubte die Kinder das Schwert, drinnen raffte sie die Pest dahin.“(1) Mit „drinnen“ und „draußen“ sind nicht tatsächliche Räume gemeint, sondern Seinsweisen, denen existenziell abgründige Bedeutungen zugrunde liegen. Drinnen ist ebenfalls der in seiner Gefängniszelle ins Leere wartende Häftling. Genau deshalb ist er aber auch draußen: außerhalb aller ihm vertrauten sozialen Netze. Wie die Lebensspielräume des Einsitzenden maximal eingeschränkt sind, so ist auch der Zugang zu seiner räumlichen Situation im Gefängnis als Folge weitgehender Isolation höchst eingeschränkt. Im entbehrungsreichen und darbenden Drinnensein besteht die Strafe. Auch wer sich zum Zwecke der Meditation in ein Zimmer zurückzieht, ist – abermals unter der Bedingung limitierter Zugänglichkeit – drinnen (in einer Atmosphäre der Kontemplation) und zugleich draußen (außerhalb der sozialen Milieus anderer Menschen). Und wieder sind die Handlungsspielräume reduziert: Nur ist dieses Drinnensein mit all seinen Folgen gewollt und nicht erzwungen.

Erwin Straus wusste schon, dass Drinnen-Draußen-Beziehungen nur bedingt mit tatsächlichen Räumen zu tun haben, sondern vielmehr mit Spielräumen.(2) So hängt auch die Zugänglichkeit situationsspezifischer Räume nicht allein davon ab, ob eine tatsächliche Grenze überschritten werden darf oder nicht. Das Programm einer Situation sieht die Modi der Zugänglichkeit unter bestimmten Voraussetzungen als Möglichkeiten vor. Auf Türen, Zäune oder Wassergräben kommt es dabei nicht an, denn es gibt räumliche Situationen, die ganz frei sind von Architektur und sich – gleichsam im Freien – wie aus dem Nichts konstituieren.

Diffuse Randzonen, Foto: Jürgen Hasse

Diffuse Randzonen, Foto: Jürgen Hasse

Räumliche Situationen
Von Menschen genutzte Räume sind sozial situiert, weil sie in einer Welt mit anderen vorkommen. Die in einer Situation wurzelnden Bedeutungen regulieren, wer in einem Raum sein darf oder soll, und sie geben zu spüren, für wen ein Raum nicht gedacht ist. Mit anderen Worten: Räume sind nicht einfach. Sie entstehen vor einem situationsspezifischen Hintergrund. Unter einer Situation verstand Karlfried Graf Dürckheim das Ganze einer sich „von Augenblick zu Augenblick als Einheit im Zugleich konstituierende(n) Bewußtseinsmannigfaltigkeit“(3). Ein systematisch und terminologisch differenziert aufgebautes Situations-Konzept hat der Kieler Philosoph Hermann Schmitz als ein Kernstück seiner „Neuen Phänomenologie“ entwickelt.(4) Situationen begreift er als Horte von Bedeutungen, als „Heimstätten, Quellen und Partner“(5) allen menschlichen Verhaltens. Sie sind „unübersehbar in Situationen verschachtelt“(6). Mindestens Sachverhalte („dass etwas ist, überhaupt oder irgendwie“(7)) und Programme („dass etwas sein soll oder möge“(8)) gehören zu ihnen. Oft außerdem Probleme, die das unsichere Gefühl alarmieren, ob etwas ist.

Regulierung der Zugänglichkeit
Was in einer räumlichen Situation an einem Ort sein soll, geben Programme zu verstehen – durch sprachliche Aussagen, bauliche Arrangements, juristische Konstruktionen oder die immersive Eindrucksmacht von Atmosphären. Die folgenden zum Teil stark kontrastierenden Beispiele werden auf die situationsabhängige Komplexität von Drinnen-Draußen-Beziehungen ebenso aufmerksam machen wie auf die höchst unterschiedlichen Modi der Disposition von räumlicher Zugänglichkeit und Ausgeschlossenheit.

Erweiterung des Frankfurter Ostends, 2012, Foto: Jürgen Hasse

Erweiterung des Frankfurter Ostends, 2012, Foto: Jürgen Hasse

Eine ganze Reihe spezifischer Situationsräume wird gefühlsmäßig wahrgenommen. Dazu gehören zum einen die Atmosphären, in die hineingerät, wer in den Wirkungskreis emotional ansprechender Medien gerät (Wind und Wetter, Licht und Schatten, ebenso symbolisch geladene und szenisch arrangierte Baustoffe wie Glas, Stahl und Beton). Zum anderen sind es die Stimmungen, unter deren affizierendem Bann steht, wer auf dem Niveau persönlicher Betroffenheit von der immersiven Macht einer Atmosphäre eingenommen wird.(9) Atmosphären und Stimmungen verhalten sich zueinander wie die Figuren einer russischen Matrjoschka-Puppe. Atmosphären (geschweige denn Stimmungen) haben aber keine Ein- und Ausgänge, durch die man hinein- und wieder hinausgelangen könnte. Als prädimensionale Volumen haben sie offene Grenzen in Gestalt imaginärer Übergänge, Weichen und Schwellen.(10) Über ihre Vitaltöne steuern sie den Verkehr zwischen drinnen und draußen. Deshalb treten sie in den folgenden beispielhaft annotierten Räumen auch als Bedeutungsfähren auf. Was „drinnen“ und „draußen“ in der Perspektive der Zugehörigkeit beziehungsweise Ausgeschlossenheit letztlich bedeutet, gibt sich oft in Gefühlen, die einen Zugang anbieten oder abwehren, zu verstehen. Die Funktion von Atmosphären ist eine gänzlich andere als die von Schlössern, Wänden und juristischen Ansprüchen.

Stadtquartier
Im Unterschied zu festen Bauten sind Stadtquartiere nicht begrenzt wie Gegenstände mit Ecken und Kanten. Abgesehen von Gated Communities sind sie (vom Wohnquartier bis zur Bürostadt) nicht ummauert oder umzäunt; vielmehr hören sie an diffusen oder schwimmenden Randzonen auf und können prinzipiell von jedermann passiert werden. Dennoch machen viele Menschen um bestimmte Gegenden einen Bogen und wollen lieber draußen als drinnen sein. Es ist die Eindrucksmacht der Atmosphären, die im Medium leiblichen Spürens (und nicht des rationalen Begreifens) das eigene Mitsein in einem Raum bestimmt und Einfluss darauf hat, ob man drinnen oder draußen sein will. Atmosphären laden zum Wohnen in einem Quartier ein und stimmen Gefühle der Zugehörigkeit an. Sie können aber auch das Draußenbleiben gebieten.

Wohnquartiere unterliegen keinen formalen Zugangsbeschränkungen (weder die „sozialer Brennpunkt“-Siedlung noch die „bessere Gegend“). Zugänglichkeit ist eine subjektive Möglichkeit; man kann drinnen sein wollen, weil sich das Wohnen an diesem tatsächlichen Ort als geradezu paradiesisch suggeriert. Aber wer aus politischen oder persönlichen Gründen zu einer bestimmten Gemeinschaft nicht dazu gehören will, mag auch draußen bleiben wollen. In der atmosphärischen Ausstrahlung einer Wohngegend werden Lebensprogramme spürbar, mit denen sich nicht jedermann in gleicher Weise identifiziert. Die Erscheinung eines Viertels kommuniziert atmosphärisch, wer „eigentlich“ hineingehört und wer nicht. Als Medien stummer beziehungsweise leiblicher Kommunikation fungieren unter anderem soziokulturell wie -ökonomisch codierte Baumaterialien (Betonplatten versus Marmor), die Bauweise der Häuser (immer gleich, nackt und funktionalistisch versus originell, gestaltreich und ästhetisiert) sowie die habituelle Präsenz der Bewohner (Kleidung und Bewegung) und vieles mehr. Im gelebten Raum wie in der Dauer der gelebten Zeit prägen Stadtquartiere ihren eigenen „Habitus“ aus. Zwingende Zugangsregeln gibt es aber nicht. Die hinreichende Verfügbarkeit von Geld öffnet nahezu jeden Spielraum.

Exklusive Räume
Auch innerhalb einer Wohnung gibt es Räume oder Zonen des Drinnen und Draußen. Ihre Zugänglichkeit wird nach (sub-) kulturell geteilten Werten und Normen geregelt. Küchen und „Herrenzimmer“ waren einst exklusive und separierende Sonderräume. Die Küche kennt die Wohnung heute nicht mehr als „exklusiven“ Raum der Frau, von ethnischen Besonderheiten abgesehen. Schon lange ist sie als disperse Technosphäre gleichsam grenzenlos in die Mitte des Wohnraumes gerückt. Auch das exklusive Zimmer für den „Hausherrn“ hat sich im Laufe der Kulturgeschichte nicht bewährt. Wenn jedoch auch heute noch gen­derspezifische Traditionen in spezifischen räumlichen Situationen (vor allem wegen religiös begründeter Menschenbilder) gelebt werden, so stehen sie meistens im krassen Widerspruch zum liberalen Wertekonsens westlicher Gesellschaften.

Die Frankfurter Küche, Foto: Stadt Frankfurt am Main / Museum Angewandte Kunst

Bis in die 1920er und 1940er Jahre gab es in vielen großbürgerlichen Wohnungen einen „in der Hauptsache dem Hausherrn vorbehaltene(n) Raum“(11) – das sogenannte Herrenzimmer. Es hat „im wesentlichen als Arbeitszimmer oder als bloßer Aufenthaltsraum“(12) gedient. Raumausstattung und -atmosphäre folgten einer maskulinen Leitkultur. Die ästhetische Gestaltung festigte die persönliche Situation des Haushaltsvorstands vor dem Wertehintergrund der damaligen Zeit. Das Herrenzimmer war – anders als der Salon – durch die Präsentation auratischer Upper-Class-Gegenstände zugleich ein Raum der symbolischen Kommunikation sozialer Zugehörigkeit, ein „Schauraum“ der Klassengesellschaft, von dessen Milieu nur Insider profitieren durften. Prinzipiell war er zwar auch für die Frau zugänglich, jedoch vornehmlich in „dienenden“ (etwa Kaffee und Gebäck servierenden) Rollen.

Komplementär zum Repräsentationsraum des Mannes gab es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts diverse Frauenbiotope. Zum Beispiel sicherte das architektonische Modell der sogenannten „Frankfurter Küche“(13) das kleinbürgerliche Rollenbild der Hausfrau ab. Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky hatte die nur zehn Quadratmeter kleine Zelle (ein gleichsam gestanztes Industrieprodukt) erfunden. Als Innovation des Neuen Bauens erlangte die Kompaktküche großes Aufsehen. Rund 15.000 Mal wurde sie in die von Ernst May entworfenen Standard-Wohnungen implantiert und begeisterte als geradezu futuristische Raumidee und als kulinarischer Maschinenraum – hoch verdichtet, zu eng für mehrere, zu monofunktional für anderes. Aber sie war nicht nur ein praktischer Ort, sondern zugleich ein innerhäuslicher Außenposten genderpolitischer Akkulturation. Eine Durchreiche zum „Wohnzimmer“ machte sie geradewegs zu einem Lebensraum der (Haus-)Frau – zu einem „Softkerker“, der hinter der verbreiteten Vorstellung einer „nur“ praktischen Idee bestens getarnt war. Im Schein des Nützlichen und Fortschrittlichen prolongierte die „Frankfurter Küche“ – ähnlich wie das Herrenzimmer – die hierarchische Ordnung zwischen den Geschlechtern. Formalisierte Zugangsregeln erübrigten sich, denn dieser Raum war ein unmissverständlicher Musterraum der Frau. Drinnen und draußen war eine Frage der gelebten Rollenidentitäten, nicht der tatsächlichen Begehbarkeit.

Schlachthaus und Zoologischer Garten

Schlachthof in Lille um 1909, historische Postkarte

Schlachthof in Lille um 1909, historische Postkarte

Etliche situative Sonderräume mit hoch regulierter Zugänglichkeit „dienen“ den Tieren – nicht weil die Menschen deren Ansprüchen gerecht werden wollen, sondern eigene Bedürfnisse zum Maß aller Dinge machen. Dazu gehören das „Schlachthaus“ und der „Zoologische Garten“; beide haben eines gemeinsam: Sie dienen der Affektdämpfung. Das Schlachthaus will – weit weg von den gemütlichen Atmosphären der Wohnung – dem Ekel ebenso zuvorkommen wie der ethischen Erregung angesichts einer martialisch-fabrikartigen Tötung von „Speisetieren“, die als Methode und Preis ungebremsten Genusses stumm hingenommen wird. Im mythischen Draußen der seriellen Schlachtung von Rind, Schwein und Huhn spiegelt sich die zivilisatorische Bestrebung wider, alles zurückzudrängen, worin sich der Mensch selbst als „tierischer Charakter“ empfinden könnte.(14) Das kommode Drinnen im massenkulturell-dumpfen Konsumraum des „großen Fressens“ setzt den Closed Shop als Raum der Transformation lebender Tiere in hübsch verpackte Nahrungsmittel voraus.

 

Tiergehege eines Zoologischen Gartens, Foto: Jürgen Hasse

Tiergehege eines Zoologischen Gartens, Foto: Jürgen Hasse

Der romantizistische Gegenraum zum Schlachthaus ist der Zoologische Garten. In seiner doppelten Moral dient er hauptsächlich der Rettung eines reinen Bildes vom schönen und archaisch-wilden Tier. Seit dem 19. Jahrhundert variiert die in der Menagerie exzessiv betriebene Exotisierung gefangen genommener Wildtiere im Format des Zoologischen Gartens. Bis in die Gegenwart ist er deshalb auch nicht in erster Linie ein Ort der Bildung, der Forschung und der Rettung bedrohter Arten.(15) Praktisch folgt er viel eher dem kulturindustriellen Erfolgsprogramm der Unterhaltung, das Heerscharen von Zoobesuchern tagtäglich mit dem Nachäffen von Schimpansen und Ärgern von Raubkatzen vor sicheren Scheiben und Gittern in Ekstase treibt. In seiner heterotopologischen Raumsituation ist der Zoo ein sozialpsychologisches Kompensationsmilieu. Im Bild einer bezwungenen Natur macht er jene lebensweltlich dahinschleichenden Naturentfremdungen unbewusst, die sich in einer allgegenwärtigen Welt des Hypertechnischen im Schein reiner Nützlichkeit verbergen.
Wie enden wir nun? Vielleicht wie ein von drinnen kommender und im Draußen sich verlierender Ton, der aus der Ferne ein letztes Mal nachhallt und sodann nicht mehr ist. Drinnen und draußen sind in gewisser Weise „Nichtse“, wenn auch überaus wirkmächtige räumlich-situative Seinsweisen.

Prof. Dr. Jürgen Hasse (*1949) studierte Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Nach seinem Referendariat und mehrjähriger Tätigkeit als Lehrer an verschiedenen Haupt- und Realschulen wurde er promoviert und arbeitete von 1982 bis 1985 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Oldenburg. Von 1985 bis 1993 war er Hochschulassistent für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. In dieser Zeit wurde er habilitiert mit einer Arbeit zur „Geographie und Postmoderne“. Seit 1993 ist Jürgen Hasse Universitätsprofessor für Geo­graphie und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Anmerkungen
(1) Die Bibel, Einheitsübersetzung: Klagelieder 1,20.
(2) Vgl. Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin u. a. 1956, S. 251.
(3) Dürckheim, Karlfried Graf: Erlebensformen. Ansatz zu einer analytischen Situationspsychologie. Ein Beitrag zur Psychologie des Erlebens [Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XLVI], Leipzig 1924, S. 267.
(4) Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie (5 Bände in 10 Bänden). Bonn 1964 bis 1980.
(5) Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie? [LYNKEUS. Studien zur Neuen Phänomenologie, Bd. 8], Rostock 2003, S. 91.
(6) Ebd., S. 92.
(7) Ebd., S. 89.
(8) Ebd.
(9) Vgl. Hasse, Jürgen: Atmospheres and Moods. Two Modes of Being-with, in: Griffero, Tonino / Tedeschini, Marco (Hrsg.): Atmospheres and Aesthetics. A Plural Perspective, Cham 2019, S. 77-92.
(10) Vgl. Schmitz, Hermann: Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: Fink-Eitel, Hinrich / Lohmann, Georg (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993, S. 33-56.
(11) Wasmuth, Günther (Hrsg.): Wasmuths Lexikon der Baukunst, Bd. III, Berlin 1929, S. 93.
(12) Ebd.
(13) Vgl. Barr, Helen / May, Ulrike: Das Neue Frankfurt. Spaziergänge durch die Siedlungen Ernst Mays und die Architektur seiner Zeit. Frankfurt a. M. 2007, S. 9.
(14) Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Erster Band (1939), Frankfurt a. M. 1997, S. 253.
(15) Vgl. Meyer, Heinz: Vergnügen. Abhandlung, in: Dinzelbach, Peter (Hrsg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stutt­gart 2000, S. 455-472, hier S. 463.

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