Andreas Denk

Dynamo im öffentlichen Raum

Das Bonner Lebensprojekt „Wahlverwandtschaften“

Jahrzehnte dämmerte das letzte Stück der Heerstraße in der Bonner „Altstadt“ den unerlösten Albtraum einer fast vergessenen Gemengelage. Eingezwängt zwischen zwei Verkehrsadern und als Endstück des gemischten Quartiers abgekoppelt von einem strukturstabilisierenden „Publikumsverkehr“ war in diesem städtebaulich funktionslosen Wurmfortsatz Platz für Low-Level-Mehrfamilienhäuser, ein paar Gewerbebetriebe in Hinterhöfen, eine unbemerkte Tanzschule, die in den fünfziger Jahren stehen geblieben schien und eine Menge Probleme mit Drogen und Alkohol durch eine benachbarte Station für Obdachlose. Seit wenigen Jahren wirkt die Straße anders, weniger hoffnungslos, weniger grau, weniger abgekoppelt. Eine Baulücke ist geschlossen worden – mit einer nicht unbedingt avantgardistischen, aber angemessenen Architektur, die das Niveau der Straßenfassade merklich ins Freundliche hebt, aber nicht bedingungslos überspielt.

Die Baulückenschließung ist das erste Projekt des Bonner „Wahlverwandtschaften e. V.“, eines Zusammenschlusses zunächst von älteren, heute unterschiedlich alten Menschen der Region, die sich um die Verwirklichung von Mehrgenerationen-Wohnprojekten bemühen. Gemeinsam mit einem Bauträger und einem Architekten hat die Initiatorin des Vereins und dessen langjährige Vorsitzende, Eva Hüttenhain, die Kette schwieriger Hürden gemeistert, die einem solchen Vorhaben im Wege stehen: die richtigen Mitstreiter(innen) zu finden, die Finanzierungsprobleme zu lösen, Verwaltungshindernisse zu umschiffen und dabei den nötigen Optimismus zu behalten. Grundlage der guten Laune ist indes nicht nur das gelingende Zusammenleben, sondern auch die Wirkung im Öffentlichen, die das Projekt gezielt entfaltet hat. Inmitten energetisch geschwächter Entwicklungspotentiale wirkt die Hausgemeinschaft wie ein Dynamo.

An einem Vormittag im Juli sitze ich ihr gegenüber: Eva Hüttenhain, Anfang 70, mit rostroten Haaren, lebendigen Augen, einer Offenheit verratenden Miene, lebhafter Stimme, kultivierter Sprache und fast mädchenhaftem Lachen – eine autonome Frau. „Sie glauben gar nicht, was es heißt, von 220 Quadratmetern Wohnfläche in eine Drei-Zimmer-Wohnung umzuziehen. Die vielen Dinge, die gewohnte Umgebung, die Erinnerungen. So ist es vielen von uns ergangen“, sagt sie. Es gäbe sogar Mieterinnen und Besitzerinnen, die ihr Eigenheim gegen 55 Quadratmeter Wohnfläche getauscht haben.

„Wenn man sich erst getrennt hat, fühlt man sich regelrecht befreit“, meint Eva Hüttenhain mit ambivalentem Gesichtsausdruck und bietet Früchtebrot an, das jemand im Haus fabriziert hat. „Aber alle sind glücklich. Natürlich gibt es die üblichen Probleme im Zusammenleben, aber wir versuchen, sie mit unserer Ausrichtung nach außen nicht so wichtig zu nehmen.“ Im Vorderhaus liegen 23 Wohnungen – davon sieben geförderte Sozialwohnungen und eine Gemeinschaftswohnung. An den höchst gepflegten Garten – der Hausmeisterservice wird dank zwei älteren Mitbewohnern überflüssig, die der Aufgabe mit Begeisterung und unübersehbarem Erfolg nachgehen – schließt sich das „Gartenhaus“ an, das 24 Miet- und Eigentumswohnungen aufnimmt. Die Wohnungen sind zwischen 41 und 106 Quadratmeter groß, barrierefrei und in Teilen individuell zu gestalten. Inzwischen, nach vier Jahren, leben hier 48 Erwachsene und vier Kinder.

Eva Hüttenhain führt mich auf den rückwärtigen Balkon. Wir sind hier direkt über dem „Alten Friedhof“, der Begräbnisstätte der Bonner Gelehrten und des Großbürgertums im 19. Jahrhundert. „Schauen Sie mal – das mitten in der Stadt, in dieser vermeintlichen Randlage.“ Inmitten einer phantastischen Baumlandschaft stehen die historistischen Grabmäler, von denen zumindest eines Karl Friedrich Schinkel entwarf. „Neun von uns haben hier eine Patenschaft für ein Grab übernommen Das heißt nicht nur, dass wir das Denkmal erhalten, sondern, dass wir hier eines Tages auch zusammen liegen werden.“

Ich bin überrascht: Dass die „Wahlverwandtschaften“ soweit reichen würden, habe ich nicht vermutet. „Jeder hier hat eine Art von Patenschaft oder Freundschaft zu einem anderen im Haus. Jeder hat eine Bezugsperson. Ich achte zum Beispiel darauf, ob bei meiner Nachbarin gegenüber die Rolladen hochgezogen werden. Wenn ich die jüngeren Männer für Räumarbeiten brauche, muss ich das organisieren, aber es klappt immer“, meint Eva Hüttenhain. Auch ein dementer Mitbewohner oder körperliche Behinderungen seien kein Problem in der Gemeinschaft von Älteren, Alleinstehenden und Familien. Das „Tandem“-Prinzip macht unser Haus einzigartig – auch im Vergleich mit anderen Modellen. Schwierigkeiten machten höchstens Eigenbrötler. Problematischer sind „Eigentümer“, die ihre Interessen gegenüber der Gemeinschaft durchzusetzen versuchten. Das müsste in kommenden Verträgen bei neuen Projekten des Vereins entsprechend geregelt werden.

Die Teilung von Arbeit und Verantwortung war ursprünglich der Anlass für Eva Hüttenhain, über andere Lebensbedingungen nachzudenken. Als Gleichstellungsbeauftragte in einer ministeriennahen Institution habe sie versucht, auch Frauen in Führungspositionen zu bringen. „Sie haben dann immer abgelehnt, weil sie sich die erforderliche Reisetätigkeit wegen ihrer Kinder nicht zugetraut haben.“ Die Suche nach einer Lösung hat sie auf das Zusammenleben mehrerer Generationen gebracht. Bei der ursprünglichen Konzeption der „Wahlverwandtschaften“ sei sie davon ausgegangen, dass sich Jüngere und Ältere wechselseitig helfen. „Das kommt aber nicht hin, die Jüngeren sind viel zu sehr in ihr Berufsleben eingespannt. Wenn einer Arbeit übernimmt, dann sind das meist die Älteren.“

Aber all das werde ausgeglichen. Gemeinsam unterhalten die Hausbewohner eine Gemeinschaftswohnung mit Gästezimmer, in dem Feste gefeiert werden oder Kaffee getrunken werden kann. „Ohne das geht es nicht“, meint Eva Hüttenhain, „Zu den meisten Geburtstagen oder anderen Festangelegenheiten sind alle eingeladen. Dass sind immer Möglichkeiten, Neid, Missgunst und andere zwischenmenschliche Phänomene auszubügeln.“ Im übrigen habe man festgelegt, dass Entscheidungen in der Hausgemeinschaft nicht im üblichen demokratischen Abstimmungsmodus – also mit Mehrheiten – entschieden würden. „Wir treffen unsere Entscheidungen im Konsens“ – was heißt, dass zu anstehenden Problemen alle gehört werden und im Zweifelsfall soviel Überzeugungsarbeit geleistet wird, dass alle Bewohner „damit leben können“. „Man könnte zwar annehmen, dass das viel mehr Zeit kostet als eine einfache Abstimmung,“ sagt Eva Hüttenhain, „aber tatsächlich ist der Zeitaufwand, jemanden explizit nach seiner Meinung zu fragen, nur unwesentlich höher. Dafür ist der Konsens umso nachhaltiger.“

In solchen Momenten merkt man: Die Sozialwissenschaftlerin Hüttenhain hat sich über Jahre intensiv mit Kommunikationsstrategien beschäftigt, was dem Verein und seinen Projekten nun zu Gute kommt. Inzwischen sind zwei weitere Projekte in Bonn entstanden, und die Zahl der Vereinsmitglieder, die in einer ähnlichen Situation wohnen möchten, liegt bei über 100. Das Fortbestehen des Konzepts ist allerdings weniger ein Problem der Quote, sondern vielmehr eine Frage der Kontinuität. Wer garantiert dafür, dass spätere Mieter oder Eigentümer den Urgedanken der sozial engagierten Wohngemeinschaft weitertragen? Das Problem des Generationenwandels im Mehrgenerationenhaus ist auch Eva Hüttenhain bewusst: „Es sind die Älteren, die Alleinstehenden und die Alleinerziehenden, die solche Projekte brauchen und fortführen werden“.

Dabei ist das Gelingen der „Kommunikation“ in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt möglicherweise nicht nur von intrinsischen Faktoren abhängig. Die „Wahlverwandtschaften“ haben sich gezielt für den Standort ihres Wohnprojekts entschieden. Man wollte die Innenstadtnähe, wo es eine vollständige Nahversorgung gibt, die möglichst zu Fuß erreichbar ist. „Gerade für ältere Menschen ist das wichtig, weil es sie so lange mobil hält, bis es gar nicht mehr anders geht“. Und man hat sich einen Platz ausgesucht, der nicht nur Harmonie und Sorglosigkeit versprach. „Eine Strategie war es von Anfang an, unsere Aktivitäten nicht nur innerhalb des Hauses zu entfalten, sondern in das Quartier hinein zu wirken. Im Zweifelsfall überspielt dann die gemeinsame übergeordnete Idee der Außenwirkung die inneren Probleme der Gemeinschaft. Sie sind dann einfach nicht mehr das Wichtigste.“

Und die Bewohner der Heerstraße entfalten viele Initiativen: Manche helfen Schülern mit Migrationshintergrund bei den Hausaufgaben, lesen in der nahen Schule vor; andere engagieren sich für eine Kunstinitiative in der Nordstadt; Pläne für den Umbau einer der beiden Verkehrsadern sind als Bürgerantrag unterwegs; man arbeitet in städtischen Gremien zur Innenstadtgestaltung mit.

Doch die institutionelle Verflechtung der „Wahlverwandtschaften“ ist nur die Oberfläche ihrer Wirkung. Die Wirksamkeit des Anderen, das diese „Wohngemeinschaft“ in seine Umgebung implantiert, ist ihr eigentlicher Effekt. Das Ende der Heerstraße sieht anders aus und wirkt anders, seitdem die „Wahlverwandtschaften“ dort sind. „Das ist sicher richtig“, glaubt auch Eva Hüttenhain, „unsere Anwesenheit hat den Ort verändert. Wir haben manchmal darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht so gut ist, die Flasche Bier, die man gerade getrunken hat, an unserer Ecke wieder rauszulassen.“ Die Veränderung des energetischen Potentials einer Straße und eines Quartiers durch Anwesenheit und gelebtes Vorbild ist eine charmante, aber herausfordernde Form, gesellschaftliche Teilhabe zu manifestieren. Dieses eigene Interesse so in eine vorhandene Struktur zu integrieren, dass die Implantation eine selbstverständliche Form bekommt, ist eine Kunst.

Auch ihr ist bewusst, dass der Verein als Generator der „Inwertsetzung“ für die Immobilienwirtschaft interessant ist. „Eine funktionierende Mischung wie unsere Hausgemeinschaft, die Wohnlagen stabilisiert, sieht man überall gerne.“ Eva Hüttenhain erzählt von einem Nachbargrundstück, das gerade freigeräumt worden ist. Der Bauträger hat es dem Verein für eine weitere Mehrgenerationenanlage angeboten. Das könnte das vierte Projekt sein, das die „Wahlverwandtschaften“ übernehmen. „Interessenten gibt es genug“, sagt sie, „nur diesmal will man dort keine Wohnungen für Leute mit Wohnberechtigungsschein haben. Aber das kriegen wir noch hin.“ Das glaube ich ihr. Man braucht sie nur genau anzusehen, diese Mischung aus Klugheit, Temperament und Energie…

 

Prof i.V. Andreas Denk (*1959) ist Architekturhistoriker und Chefredakteur dieser Zeitschrift. Er lehrt Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, lebt und arbeitet in Bonn und Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge. Moderationen und Veranstaltungskonzepte.

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