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Tre Tempi

In Venedig lässt sich seit vielen Jahren ahnen, vermuten und studieren, wie sich das Image der europäischen Stadt in der Epoche der Globalisierung als imagestarke Marke entwickeln wird. Tatsächlich kommen bis zu 130.000 Besucher täglich in die Stadt, um dieses ästhetische, technische und ökonomische Wunderwerk zu sehen. Dagegen hat die Stadt höchstens 50.000 feste Einwohner. Die Gentrifizierung der Toplagen und der touristische Overflow der Region zwischen Rialto und San Marco begann bereits im 19. Jahrhundert und setzt sich bis heute fort.

Zusätzlich zur spektakulären Stadtanlage mit ihren Kanälen und Wasserfahrzeugen, ihren Palazzi und Kunstsammlungen bemüht sich die Stadt seit Jahren um Ausstellungen, Festivals und andere temporäre Aktivitäten. Die „Eventisierung“ hat die Lagunenstadt voll ergriffen: Konzerte und Theater, Ausstellungen, Videoscreenings, öffentliche Panels, Vorträge, Führungen bei Tag und bei Nacht, mit und ohne Boot. Allein die Biennalen – inzwischen gibt es neben der Kunstbiennale Zweijahresschauen für Film, Musik, Tanz, Theater und Architektur – schlägt die Veranstaltungsfrequenz der meisten deutschen Großstädte um Längen. So ist eine neue Klasse der Venedig-Besucher entstanden: Neben die wenigen Dauereinwohner und die Normal-Touris sind Eventnomaden getreten, die schwarmartig an ausgewählten Stellen – wie überall in der Welt – für kürzeste Zeit einfallen und dabei die traditionellen Lebensgeschwindigkeiten erheblich übertreffen.

Foto: Andreas Denk

Die in immer ähnlicher Weise trottenden Touristen, ob allein oder in der Gruppe, haben eine andere, auch spezifische Geschwindigkeit, die durch das Gehen und das Stehenbleiben definiert wird. Das könnte dem Charakter der Stadt mit ihren Canali und Rios, den Calle, Rami und Brücken, den Corti, Campi und den wenigen Piazze durchaus angemessen sein, weil es die Betrachtung sowohl der städtebaulichen Hardware wie auch der architektonischen Software erlaubt. Aber Konflikte, die immer dann auftreten, wenn gehende und verzögernde Gruppen aufeinandertreffen und sich gegenseitig blockieren, verhindern zumeist die intensive Wahrnehmung der Stadt. Und gegebenenfalls schafft man eben nicht das ganze Programm.

Genau mit dieser Option könnte die Eventnomadenkultur nicht leben. Sie treibt die Beschleunigung des Venedigaufenthalts auf die Spitze: Die globalen Kulturfreunde haben als einziges Ziel, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein, und dabei die richtigen Leute zu treffen, die im globalen Kontext bestätigen können, dass sie dort waren. Dabei werden Aufmerksamkeits- und Zeitkontingente aus Effizienzgründen nach unten gefahren. Zwei, höchstens drei Tage, meistens aber noch weniger müssen reichen, dem oder den Events beigewohnt und die nötigen Kontakte „gemacht“ zu haben. Gelingt überdies eine zumindest oberflächliche Wahrnehmung des Ereignisses, ist es gut, den ersten Eindruck als fundamentale Erkenntnis wieder- und ein prägnantes Urteil darüber möglichst autoritativ abzugeben. Mindestens genauso wichtig wie das Ereignis selbst sind jedoch Shuttle-Services, Aufladestationen für Telefonakkus und Wi-Fi-Zugänge in der ganzen Stadt, die erst die Beschleunigung und globale Vernetzung der neuen Nomaden ermöglichen und in ihrer Wahrnehmung wahrscheinlich Struktur und Architektur der Stadt überstrahlen.

Manchmal, immer seltener trifft man das älteste Tempus in Venedig. Die alten Bewohner der Lagune kennen es am besten. Ihre Geschwindigkeit wird bestimmt durch die einfachen und alltäglichen Wege, die sie langsam und immer gleich zurücklegen, dieselben gewohnten Verrichtungen, die sie jeden Tag vornehmen, durch die geborenen und gewachsenen Beziehungen, die sie untereinander haben. Dieser Zeitlauf ist archaisch. Er entzieht sich der schnellen Veränderung oder: der Wahrnehmung der Veränderung. Vielleicht war es nie anders, vielleicht wird es nie anders sein. Es könnte sein, dass sich die Wahrnehmungsweisen der drei Tempi gegenseitig ausschließen. Die häufiger werdenden Kollisionen zwischen Bewohnern und Touristen, die die venezianische Stadtverwaltung inzwischen gerne regulieren würde, verdanken sich der konkurrierenden Nutzung des städtischen Lebensraums, der sich durch die Touristen mehr verändert als den Einheimischen recht sein kann. Die Eventnomaden indes sind so schnell, dass sie nicht nur Veränderungen nicht bemerken, sondern auch selbst gar nicht mehr auffallen. Wahrscheinlich nehmen die langsamen Venezianer die Eventisten nurmehr als unscharfe Schemen wahr, an die sie sich am nächsten Tag beim besten Willen nicht mehr erinnern können.

Was aber bleibt? Venedig ist eine alte Frau, und von ihr bleibt die Erinnerung an die weiche Haut der Greisin, die beim Ausstieg vom Vaporetto die Hand ausstreckt, damit ihr jemand ans Land hilft.

Andreas Denk

Der Bericht zur Veranstaltung des BDA am Eröffnungswochenende der Architekturbiennale 2018 in Venedig beginnt im Heft der architekt 3/18 auf S. 74.

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