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mit hirn und hand

Ein postumes Gespräch mit Walter Gropius

Andreas Denk: Herr Gropius, hundert Jahre nach der Gründung des Bauhauses in Weimar und 50 Jahre nach Ihrem Ableben hat sich die Entwicklung unserer Gesellschaft in einem Maß beschleunigt und globalisiert, wie es für Sie damals nicht absehbar war. Wie beurteilen Sie die jetzige Situation?

Walter Gropius: Die Idee der heutigen Welt ist schon erkennbar, unklar und verworren ist noch ihre Gestalt. Solange aber die Wirtschaft, die Maschine Selbstzweck sind, anstatt Mittel, die Geisteskräfte zunehmend von mechanischer Arbeitslast zu befreien, bleibt der Einzelne unfrei und die Gesellschaft kann sich nicht ordnen. Die Lösung hängt von der veränderten innerlichen Einstellung des Einzelnen zu seinem Werk, nicht von Verbesserungen der äußeren Lebensumstände ab. Der Wille zur Umstellung auf den neuen Geist ist deshalb von entscheidender Bedeutung für neue aufbauende Arbeit.

Andreas Denk: Sie waren immer ein glühender Verfechter der führenden Rolle, die Architektur und Architekt bei der kulturellen Ausstattung der Gesellschaft spielen sollten. Nicht wenige sehen den gesellschaftlich verantwortungsvollen Beruf des Architekten und die gesellschaftsbildenden Möglichkeiten der Architektur in unserer Zeit sehr skeptisch. Welche Rolle kann Architektur heute spielen?

Walter Gropius: Das Weltgefühl einer Zeit kristallisiert sich deutlich in ihren Bauwerken, denn ihre geistigen und materiellen Fähigkeiten finden in ihnen gleichzeitig sichtbaren Ausdruck und für ihre Einheit oder Zerrissenheit geben sie sichere Zeichen. Ein lebendiger Baugeist, der im ganzen Land eines Volkes wurzelt, umschließt alle Gebiete menschlicher Gestaltung, alle ‚Künste’ und Techniken in seinem Bereich. Das heutige Bauen ist aus einer allumfassenden Gestaltungskunst zu einem Studium herabgesunken, in seiner grenzenlosen Verwirrung ist es ein Spiegel der alten zerrissenen Welt, der notwendige Zusammenhalt aller am Werk Vereinten ging darin verloren.

Andreas Denk: Was müsste sich ändern, damit Architektur wieder die Bedeutung bekommt, die sie Ihrer Meinung nach verdient?

Walter Gropius: Die Entwicklung der Baugestalt – gebunden an den ungeheuren Aufwand technischer und stofflicher Mittel, ebenso wie an das Eingehen neuer Geistigkeiten über lange Erkenntnisreihen hinweg in das Bewusstsein der Schaffenden – folgt nur langsam der vorauseilenden Idee. Die Kunst zu Bauen ist an die Möglichkeit zu gemeinsamer Arbeit einer Vielheit von Schaffenden gebunden, denn ihre Werke sind im Gegensatz zum isolierten Einzel- oder Teilbildwerk orchestraler Art und mehr als diese Abbild für den Geist der Gesamtheit. Die Beschäftigung mit der Kunst des Bauens und ihren vielen Gestaltungszweigen ist also eine Lebensangelegenheit des ganzen Volkes, nicht eine Sache des Luxus.

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: Welche Eigenschaften muss gute Architektur heute haben?

Walter Gropius: Alle bildnerische Arbeit will Raum gestalten. Soll aber jedes Teilwerk in Beziehung zu einer größeren Einheit stehen, und dieses muss das Ziel des neuen Bauwillens sein, so müssen die realen und geistigen Mittel zur räumlichen Gestaltung von allen am gemeinsamen Werk Vereinten gekonnt und gewusst werden. Und hier herrscht große Verworrenheit der Begriffe. Was ist Raum, wie können wir ihn erfassen und gestalten?

Andreas Denk: Sie scheinen im Rückblick der Vertreter eines ökonomie- und kon­struk­tionsdominierten Technizismus zu sein. Nun sprechen Sie etwas esoterisch vom Raum. Können Sie diesen Widerspruch auflösen?

Walter Gropius: Wir empfinden den Raum mit unserem ganzen unteilbaren Ich, zugleich mit Seele, Verstand und Leib und also gestalten wir ihn mit allen leiblichen Organen. Der Mensch erfindet durch seine Intuition, durch seine metaphysische Kraft, die er aus dem All saugt, den stofflosen Raum des Scheins und der inneren Schauung, der Visionen und Einfälle; er fühlt die Zusammenhänge seiner Erscheinungsmittel, der Farben, Formen, Töne und versinnlicht mit ihnen Gesetze, Maße und Zahlen. (…) Der schöpferische Vorgang einer Raumvorstellung und -gestaltung ist (…) immer ein gleichzeitiger, nur die Einzelentwicklung der Organe des Individuums für das Fühlen, das Wissen und das Können ist wechselreich und verschieden im Tempo. Den bewegten lebendigen künstlerischen Raum vermag nur der zu erschaffen, dessen Wissen und Können allen natürlichen Gesetzen der Statik, Mechanik, Optik, Akustik gehorcht und in ihrer gemeinsamen Beherrschung das sichere Mittel findet, die geistige Idee, die er in sich trägt, leibhaftig und lebendig zu machen. Im künstlerischen Raum finden alle Gesetze der realen, der geistigen und der seelischen Welt eine gleichzeitige Lösung.

Andreas Denk: Das ist sehr weitreichend. Ihr Bauhaus sollte letztendlich eine Synthese der unterschiedlichen Kunstformen zu einem Einheitskunstwerk ermöglichen, den „großen Bau“, von dem Sie geträumt haben. Dazu ist es nicht gekommen. Von dem idealen Architektentypus, den Sie sich vorstellen, sind wir weit entfernt. Wie müsste der zukünftige Architekt ausgebildet werden, was muss er können, damit er Ihrem hohen Anspruch entspricht?

Walter Gropius: Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder das andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung. Daraus ergibt sich Art und Umfang der Lehre. Sie umfasst die handwerklichen und wissenschaftlichen Gebiete des bildnerischen Schaffens. Der beherrschende Gedanke (…) ist also die Idee einer neuen Einheit, die Sammlung der vielen ‚Künste’, ‚Richtungen’ und Erscheinungen zu einem unteilbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt.

Alle Zitate von Walter Gropius sind seiner Schrift „Idee und Aufbau des Bauhauses“ von 1923 entnommen. Die Fragen formulierte Andreas Denk.

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