Editorial

Deutschland: Ein Abriss*

Mehr als vier Millionen Wohnungen könnten in Deutschland aus reinem Bestand gewonnen werden – so das Ergebnis einer Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen, die in diesem Jahr veröffentlicht wurde (siehe Die Architekt 3 / 22). Besonderes Potential bieten interessanterweise bestehende Büro- und Verwaltungsgebäude, die oft mit geringem oder mittlerem Aufwand zu Wohnzwecken umgebaut werden könnten. Die vielfach formulierte und zunächst naheliegende Forderung, für Wohnraum (aber auch andere Nutzungen) erst einmal auf das zurück zu greifen, was bereits existiert, hat mit der gelebten Realität jedoch wenig zu tun: Es gilt weiterhin, dass Abriss und Neubau im Vergleich zum Umbau weitaus attraktiver sind – insbesondere finanziell. Häuser sind in gewisser Weise, ebenso wie unsere Kleidung und Haushaltsgegenstände, zu einem Wegwerfgut geworden.

In diesem Jahr sind wieder mehrere Anläufe genommen worden, Öffentlichkeit und Politik für diesen Missstand zu sensibilisieren. „Die Abreißerei muss ein Ende haben!“ hieß etwa ein vom BDA Bayern und dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege gestarteter Aufruf. Daneben ist kürzlich eine weitere Initiative in Erscheinung getreten: Der Architekturtheoretiker und -journalist Alexander Stumm hat einen offenen Brief an Bauministerin Klara Geywitz initiiert, in dem ein Abrissmoratorium gefordert wird. Auch der BDA gehört zu den Unterstützern, unter den Erstunterzeichnenden finden sich darüber hinaus zahlreiche bekannte Vertreterinnen und Vertreter aus Architekturlehre, -büros und -institutionen.

Transport für die Installation „Neustadt“, Emscherkunstweg. Foto: Julius von Bismarck / Marta Dyachenko

Dass es funktionieren kann, ein solches Umdenken durch Aufrufe, Ausstellungen und Artikel in die Wege zu leiten, hat vor knapp 50 Jahren das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 gezeigt. Der deutsche Beitrag richtete sich schon damals gegen den Abriss von Bestandsbauten, war jedoch unter dem Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ – obwohl die „Grenzen des Wachstums“ bereits 1972 vom Club of Rome benannt und durch die erste Ölkrise 1973 vor Augen geführt worden waren – stärker auf den kulturellen als den energetischen Wert des Vorhandenen fokussiert. Mit leichtem Hang zum Populismus wendeten sich die Aktivistinnen und Aktivisten gegen Flächensanierungen, zeitgenössisches Bauen in historischer Umgebung und auch gegen die Architektur der Moderne als solche. Die Bebilderung mit tendenziösen Gegenüberstellungen (beispielsweise Märkisches Viertel gegen Siegerländer Fachwerkstädtchen) läutete das Ende der Nachkriegsmoderne ein.

In der Folge wurde 1975 zu einer grundlegenden Wegmarke der deutschen Planungskultur, die deutlich über die Sehnsucht nach einem pittoresken Stadtbild hinausgeht. Das Denkmalschutzjahr stellte die Weichen für den erweiterten Denkmalbegriff, der nicht mehr nur die historisch allerwichtigsten Einzelbauten schützte, sondern durch Ensembleschutz auch die Aussagekraft zusammenhängender Gebiete wie Altstädte oder Gründerzeitquartiere anerkannte.

Es ist zu hoffen, dass das Jahr 2022 den nächsten Schritt markiert auf dem jahrzehntelang andauernden Weg zu einem Umgang mit dem Bestand, bei dem dessen Wert nach geistigen wie materiellen Kriterien bemessen wird. Dabei besteht die Herausforderung unter anderem darin – so schließt sich der Kreis –, gute Ideen für genau die Nachkriegsarchitekturen zu finden, die vor 50 Jahren verteufelt wurden. Ganz wesentlich wird es darauf ankommen, eine Sprache und Bilder zu finden, die in der Lage sind, weite Teile der Gesellschaft zu überzeugen und zu emotionalisieren. Und so eindimensional die Bildsprache von 1975 aus einer Fachperspektive auch wirken mag – funktioniert hat sie.
Elina Potratz & Maximilian Liesner

* In Anlehnung an die Ausstellung „Die Schweiz. Ein Abriss“, kuratiert von Countdown 2030, die noch bis zum 23. Oktober 2022 im S AM Schweizerisches Architekturmuseum in Basel zu sehen ist.

Artikel teilen:

Ein Gedanke zu “Deutschland: Ein Abriss*

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert