Laboratmosphäre
Mehr noch als bei früheren Architekturbiennalen geht es in diesem Jahr in Venedig darum, welchen Weg die Architektur im Globalen Süden einschlagen wird und wie sich dabei die Leitthemen „Dekolonisierung“ und „Dekarbonisierung“ verknüpfen lassen (ein Überblick über die interessantesten Biennale-Beiträge siehe S. 10 – 15 im Heft). Kuratorin Lesley Lokko überlässt die Bühne des „Labors der Zukunft“ diesmal insbesondere Akteurinnen und Akteuren aus Afrika und der afrikanischen Diaspora – und damit erfreulicherweise nicht nur der etablierten Architekturelite. Die Plattform der Ausstellung ist für viele Beteiligte vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil Kultur und Kunst in vielen afrikanischen Ländern kaum finanziert und gefördert werden.
Der Titel der Biennale – „Das Labor der Zukunft“ – verweist einerseits auf die enorme, auch bauliche Entwicklung, in der sich Afrika derzeit befindet. „Die Kombination aus extrem jungem Alter, extremer Urbanisierung und dem Fehlen von Ressourcen führt dazu, dass Afrika im Augenblick der neue Wilde Westen ist“, so Lesley Lokko in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung. Dass das Durchschnittsalter in Afrika unter 20 Jahren liegt, lässt erahnen, dass hier eine völlig anders geartete Vorstellung oder auch Hoffnung in Bezug auf die Zukunft existiert – die meisten Menschen haben eben den größten Teil ihres Lebens noch vor sich.
Das „Labor der Zukunft“ verweist zudem auf den Laborcharakter, auf die experimentelle und unfertige Dimension der Architekturproduktion. Denn wo die Zukunft des Bauens noch derart offen ist – und das betrifft natürlich keinesfalls nur den afrikanischen Kontinent –, lohnt es sich, Neues (mitunter aber auch Altes) auszuprobieren und zu erforschen. Hier knüpft in gewisser Weise auch die vorliegende Ausgabe an, die sich der Frage widmet, inwieweit wissenschaftliche Forschung eine Ergänzung zu klassischen Herangehensweisen von Architektinnen und Architekten darstellen kann. Denn auch wenn allenthalben in den Erläuterungstexten der Biennale von „research“ (deutsch: Forschung, aber auch Recherche) die Rede ist, so gehört es doch nicht zur Regel, dass Architektinnen und Architekten in ihrer Arbeit auf empirisch entwickelte und bewertete Erkenntnisse zugreifen.
Ein roter Faden in Lokkos Ausstellung ist die Wiederentdeckung und / oder Neubewertung traditioneller Bauweisen und -materialien – hierin scheinen Dekolonisierung und Dekarbonisierung am sinnfälligsten zu verschmelzen. Wenngleich viele Menschen mit Wissenschaft und Forschung eher Technologieorientierung assoziieren, wächst auch hier das Interesse an einfacheren und ökologisch nachhaltigeren Ansätzen. Verbunden nicht nur mit der Frage, wie eine Bauwende rein materialtechnisch oder konstruktiv herbeizuführen wäre, sondern auch, ob damit nicht auch eine verbesserte psychische und körperliche Gesundheit, mehr Wohlbefinden und weniger Stress für Menschen einhergehen könnte. Auch Aspekte, die die Gestaltung und das menschliche Schönheitsempfinden betreffen, werden zunehmend erforscht.
„Wir bekommen Investments von fast überall her“, so Lesley Lokko über den gegenwärtigen Bauboom in Afrika. „Wenn wir kein klares Bewusstsein darüber haben, was unsere eigene urbane Kultur sein sollte, werden wir bei anonymen Städten landen, die überall auf der Welt sein könnten.“ Vielleicht ist es gerade im Sinne dieses Ziels geboten, sich Beistand von überall und aus allen Gesellschaftsbereichen zu suchen. Die wissenschaftliche Forschung, bei der Mensch und Umwelt im Zentrum stehen, hätte das Potenzial, hierbei eine wichtige Partnerin zu werden.
Elina Potratz