Buch der Woche: Retail in Transition

Gegen die Leere

In den vergangenen Jahren hat sich – weiter verstärkt durch die Corona-Pandemie – das Einkaufen erheblich verändert. Während einst am Wochenende die Innenstädte überfüllt und einige Geschäfte vor allem beim Sommerschlussverkauf oder kurz vor Feiertagen kaum betretbar waren, herrscht nun häufig gähnende Leere auf den Straßen. Durch den demografischen und kulturellen Wandel verschiebt sich der Konsum vermehrt in den digitalen Raum. Kleidung, Möbel und Lebensmittel stehen online zur Verfügung, landen mit einem Klick im Einkaufswagen und dann direkt vor der Haustür – zumindest wird diese Illusion erzeugt. Doch stattdessen legen die Güter zunächst weite Strecken von Produktionsstätten zu Lagerhallen und Versandzentren zurück, bevor sie schließlich ans Ziel gelangen. 

Der Kölner Architekt Caspar Schmitz-Morkramer untersucht mit seinem internationalen Team „caspar.esearch“ – der Forschungsabteilung seines Büros „caspar.“ – diese Thematik seit 2017 unter dem Titel „retail in transition“. 2019 erschien die erste, englischsprachige Auflage der gleichnamigen Studie. Nun liegt eine überarbeitete Version auf Deutsch vor, die zusätzlich die Pandemie sowie deren starken Einfluss auf das Konsumverhalten und damit einhergehend auch auf die Architektur berücksichtigt.  

Retail in Transition, Vision Berlin, Alexanderplatz, Grafik: caspar.

Die Publikation macht deutlich, wie der „E-Commerce” an Bedeutung gewinnt und im Gegensatz dazu das Stadtzentrum sowie der Einzelhandel an Relevanz verlieren. Kleine Boutiquen werden durch große Ketten, Ramschläden oder Spielhallen verdrängt. Diese Veränderung bringt nicht nur eine Entvölkerung von Innenstädten mit sich, sondern stellt gleichzeitig die bestehende Architektur infrage. Wenn immer weniger Nachfrage nach dem Einzelhandel besteht und dieses Geschäftsmodell gegebenenfalls ganz abgeschafft wird, wird sich das Stadtgefüge erheblich umstrukturieren. Schon heute reihen sich mancherorts dort, wo einst Ladenzeilen waren, Lager- und Logistikräume von Getir, Flink und co. aneinander. Davor sitzen höchstens ein paar Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Fahrrädern und warten auf den nächsten Auftrag. Dies hat zur Folge, dass neue Anforderungen an den Stadtraum gestellt werden. Insbesondere der Infrastruktur der Lieferketten kommt eine immer größere Bedeutung zu. Der „Delivery Complex” verschlingt, entgegen dem Ziel der Nachhaltigkeit, Unmengen an Fläche, Raum und Ressourcen.  

Retail in Transition, Vision Köln, Perspektive, Grafik: caspar.

Ob so wirklich die Zukunft des Stadtbilds aussehen soll, hinterfragen Schmitz-Morkramer und sein Team. Als Gegenentwurf zeigen sie internationale Lösungsmöglichkeiten zur Wiederbelebung der Innenstadt auf und prüfen diese auf Vor- und Nachteile. Grob gliedern sie die Beispiele in drei Handlungsfelder: erstens neue, erlebnisorientierte Konzepte für Ladenlokale, zweitens die Durchmischung des Handels mit Gastronomie und Wohnen sowie drittens eine verbesserte und kostengünstige Mobilität. Es geht ihnen also weniger um eine Rettung der Läden um jeden Preis, als vielmehr darum, die Stadtzentren wieder attraktiver zu gestalten. Die überzeugende Vision sieht vor, leere Fußgängerzonen in einen Ort des Austauschs, Zusammentreffens und Interagierens zu verwandeln, einen Raum zu schaffen, an dem Menschen sich gerne aufhalten und der ihnen einen Mehrwert bietet. 

Retail in Transition, Vision Düsseldorf, Kö, Grafik: caspar.

Konkret wenden sie diese Vorschläge in Plänen, Fotos und Zeichnungen auf Fallbeispiele deutscher Großstädte an, die vielen ein Begriff sein dürften: die Schildergasse in Köln, die Frankfurter Zeil, Neuhauser und Kaufinger Straße in München, Königsallee und Gustaf-Gründgens-Platz in Düsseldorf, das Hamburger Passagenviertel sowie den Berliner Alexanderplatz. Dabei verliert die Studie aus den Augen, dass nicht nur die Metropolen, sondern auch vorwiegend kleinere Städte unter dem Aussterben des Einzelhandels leiden und demnach bei der Lösungssuche unbedingt berücksichtigt werden müssen. So kann „retail in transition” als Grundlage und Denkanstoß für weitere Planungen zurate gezogen werden, doch jede Stadt, jedes Zentrum erfordert einen individuellen und innovativen Umgang, bei dem es keine Anleitung, keine allgemeine Lösung gibt und geben darf.
Moana Ühlein

Caspar Schmitz-Morkramer (Hrsg.): retail in transition, 237 S., 28.– Euro, jovis Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-85859-719-6 

 

 

 

 

 

 

 

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert