Buch der Woche: Baukultur

Grundstein

Was für ein Konvolut! Dem zweiten Partizip des lateinischen convolvere folgend, haben der Architekturhistoriker Werner Durth und der Kunsthistoriker Paul Sigel für das epochale Werk „Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels“ bereits 2007 die deutsche Architekturgeschichte seit dem Kaiserreich der Jahrhundertwende in einem dicken Buch „zusammengerollt“. Nun erscheint es in einer aktualisierten Studienausgabe – statt als schwerer Backstein kommt das Werk jetzt broschiert und dreibändig gesammelt in einem Schuber daher, und das zu einem Preis von unter dreißig Euro. Nicht zuletzt der Lesefreundlichkeit ist damit im Vergleich zur ersten und zweiten Auflage ein großer Dienst erwiesen worden.

Wie schon Wolfgang Pehnt mit seinem wunderbaren Werk „Deutsche Architektur seit 1900“ gelingt es auch Durth und Sigel, das Zusammengerollte aufschlussreich wieder aufzurollen. Um verstehen zu können, warum die Autoren nicht einen ähnlichen Titel wie Pehnt wählten, wo sie doch im Prinzip das gleiche in den Fokus ihrer Betrachtung nehmen, hilft es, sich vorab vor Augen zu führen, welche Vorstellung des Begriffs „Baukultur“ hier zur Grunde gelegt wird. Werner Durth und Paul Sigel gehen nämlich von vier Dimensionen aus: Die Zeit betreffend, wo Baukultur als generationsübergreifender Prozess aufgefasst wird, in dem Pflege und Weiterentwicklung von Gebautem gemeint ist. Den Raum betreffend, wo Baukultur sich auf die Einbindung von Architektur in einen städtebaulichen Kontext bezieht. Die ästhetische Dimension, wo ausdrücklich nicht Stile und Moden, sondern „die Bedeutung des Gebauten für die Identität von Orten“ gemeint ist. Und schließlich das Soziale betreffend, wo Baukultur als Verfahrenskultur mit transparenten Prozessen und der Möglichkeit zur Teilhabe und mithin als Gemeinschaftsleistung begriffen wird, die die Voraussetzung von Akzeptanz gegenüber dem Gebauten darstellt.

Dies ist mehr als nur ein Hilfskonstrukt, um dem Buch einen Titel zu geben, der möglicherweise den Fördergebern gerecht würde. Vielmehr gelingt es den Autoren so, ein Koordinatensystem aufzuspannen, in dem sich die Erzählung der Architekturgeschichte der letzten 117 Jahre trefflich vornehmen lässt. Die beiden Autoren ergänzen sich hier in einigen Bereichen kongenial. Durth, dessen Wissen um die hiesige Architekturgeschichte unbestritten ist, wird diesem Ruf einmal mehr gerecht, bereichert um die Fachkenntnisse Sigels, der mit einer Dissertation zum Thema „Deutsche Pavillons auf Weltausstellungen“ 1997 in Tübingen promoviert wurde.

Und so ziehen sich diese deutschen Auftritte auf den unterschiedlichen Weltausstellungen und internationalen Architekturschauen wie ein roter Faden durch das Buch. Anhand der Art und Weise, wie sich die jeweiligen deutschen Staaten auf den Bauausstellungen präsentierten, bauen Durth und Sigel ihre Erzählung der herrschenden Auffassung darüber auf, was Baukultur sein und Architektur leisten kann und welchen Ausdruck diese in den unterschiedlichen politischen Systemen findet.Immer wieder werden dabei Seitenstränge des Baugeschehens beleuchtet, deren Entwicklung an anderer Stelle wieder aufgenommen wird. Das führt dazu, dass eine streng chronologische Abfolge nicht einzuhalten ist, am Ende aber ein logisch zu lesender und argumentativ schlüssiger Text entsteht. All das ist sorgsam aufbereitet, mit großer Akribie historisch in Quellen belegt und zudem gut bebildert.

Die Texte, deren Großteil von Durth stammt, lassen sich in ihrer zugänglichen Sprache leicht lesen, sind historisch ebenso informativ wie baukulturell aufschlussreich. Der Bogen der Baukultur schwingt sich bis in die „10er-Jahre“ dieses Jahrtausends, und dank des neuen Vorworts sind die Ausführungen in jeder Hinsicht up to date. Die Studienausgabe scheint dazu prädestiniert, ein Standardwerk für den Studienbeginn der Fächer Architektur und Stadtplanung zu werden und sei darüber hinaus all jenen empfohlen, die die eine oder andere Lücke ihrer architekturhistorischen Bildung schließen möchten.

David Kasparek

Werner Durth, Paul Sigel: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Studienausgabe, Broschur, drei Bände im Schuber, 23,3 x 30,5 cm, 808 S., 570 farb. und 450 s/w Abb., deutsch, Jovis Verlag, Berlin 2016, 29,95 Euro, ISBN 978-3-86859-427-0

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