Buch der Woche: Two Sides of the Border

Linien kreuzen

An der Grenze entstehen die Konflikte – aber eigentlich reiche die Beziehung zwischen Mexiko und den USA doch viel weiter ins jeweilige Landesinnere. Das Konzept der Linie, der politischen Grenze tauge also nicht als Ausgangspunkt, um das alltägliche Netzwerk aus Menschen, Handel, Kultur, Bildung, Arbeit, Nahrung, Geld, Infrastruktur und Familie erfassen zu können. Im Grunde handle es sich doch um ein gemeinsames Land – so die spannende These, der Tatiana Bilbao, Nile Greenberg und Ayesha S. Ghosh in ihrem Buch „Two Sides of the Border. Reimagining the Region“ nachgehen.

Ausgangspunkt des Projekts waren die insgesamt 13 Entwurfsstudios, die – initiiert von der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao – an mexikanischen und US-amerikanischen Hochschulen mit jeweils unterschiedlichem Fokus die räumlichen Beziehungen der beiden Länder untersuchten. Die Ergebnisse mündeten in einer Ausstellung an der Yale School of Architecture, die 2019 auch im Aedes Architekturforum zu sehen war. Im Buch nun treten interdisziplinär zusammengestellte Essays an die Stelle der einzelnen Entwürfe, die in den Anhang rücken.

Iwan Baan, Tijuana, Baja California 2018

Iwan Baan, Tijuana, Baja California 2018

Herzstück des Buches ist der umfangreiche Foto-Essay von Iwan Baan, der in mehreren Blöcken zwischen die Texte eingestreut ist und mal ganz konkret, mal eher assoziativ mit diesen korrespondiert. Sowohl Texte als auch Fotos sind stets unter Angabe von Koordination örtlich verankert – und zwar ganz bewusst nur anhand von Längengraden, weil das Team sich zur Recherche entlang der Ost-West-Achse durch die Region bewegt hat, um nicht die Nord-Süd-Grenze im Kopf zu reproduzieren.

Ein zentraler Text-Beitrag, der die Komplexität des grenzüberschreitenden Lebens konkret vor Augen führt, stammt von Sarah Lynn Lopez. Sie hat die Bezeichnung Remittance Houses für mexikanische Wohnhäuser geprägt, die von in den USA verdienten Dollar bezahlt werden. Lopez spricht von „remitting as a way of life“: Die Arbeitsmigration präge zunehmend den Alltag getrennt lebender mexikanischer Familien, deren Entbehrungen der konstante Bau am eigenen Traumhaus in der Heimat entgegengewirkt. Besonders an den Fassaden tragen Remittance Houses dick auf, um einer kleinstädtischen Nachbarschaft die eigene Weltgewandtheit entgegenzusetzen.

Iwan Baan, Remittance House, Acambaro, Guanajuato, 2018

Iwan Baan, Remittance House, Acambaro, Guanajuato, 2018

Dieses Bestreben der Abgrenzung ist nicht neu, wie Lopez zeigt: Schon Anfang des 20. Jahrhunderts brachten mexikanische Arbeitsmigranten Armbanduhren und Autos aus den USA mit. Besonders die Autos lösten daraufhin einen Modernisierungsschub im mexikanischen Straßenbau aus. Und auch heute bleibt der Einfluss der Dollars nicht auf den privaten Bereich beschränkt, sondern prägt das gemeinschaftliche Leben auf unterschwellige Weise: So eröffnen Zurückgekehrte beispielsweise Geschäfte mit amerikanisch anmutenden Namen wie die Waschanlage „Beverly Hills Autobaño“. In anderer Richtung finden sich ebenfalls mexikanische Spuren in den USA, etwa Häuser im „hacienda-style“ oder die Eisdiele „Cuauhtémoc“. Letztere liegt in der landwirtschaftlich geprägten Kleinstadt Ulysses (Kansas), wo die Hälfte der Bevölkerung hispanisch ist und den Ort am Leben hält.

Iwan Baan, Ulysses, Kansas, 2018

Iwan Baan, Ulysses, Kansas, 2018

Den direkten Blick auf die Grenze blendet das Buch nicht aus und benennt Horrorszenarien wie die Familientrennung oder eine durchgezogene Mauer, möchte allerdings auch Perspektiven aufzeigen. Ersela Kripa und Stephen Mueller widmen sich in ihren Beiträgen der sinkenden Luftqualität in der Metropolregion Ciudad Juárez / El Paso. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA hat hier ein rasantes Wachstum ausgelöst, das neben den niedrigen mexikanischen Löhnen auch auf schädlichen Emissionen fußt. Hinzu kommt der Sand der umliegenden Chihuahua-Wüste, dessen Auswirkungen das US-Militär einerseits zu verringern sucht, während es sich dessen Eigenschaften andererseits für militärische Übungen sowie die tatsächliche Verfolgung illegal Migrierender zunutze macht. Um zumindest der Luftverschmutzung, die von den Behörden nur unzureichend ermittelt wird, etwas entgegenzusetzen, haben Kripa und Mueller einfachste Sensoren entwickelt, die in benachteiligten Quartieren beidseits der Grenze angebracht werden und ihre Daten öffentlich machen. So kann die Bevölkerung genau nachvollziehen, welcher Verschmutzung sie vor Ort ausgesetzt ist. Die auf den Messungen basierenden Karten führen vor Augen, dass die Partikel natürlich keinen Halt vor Grenzen machen und es sich um ein gemeinsames, mexikanisch-amerikanisches Problem handelt. Und so fordert auch das Buch in einem gesonderten Kapitel eine radikal neue Kartografie, die auf Verbindungen statt Trennungen basiert.

Iwan Baan, El Paso, Texas und Juarez, Chihuahua, 2018

Iwan Baan, El Paso, Texas und Juarez, Chihuahua, 2018

Entstanden ist ein opulentes Werk, dem das Taschenbuch-Format mit seiner sich zu lösen drohenden Klebebindung wohl nicht ganz standhält. Unklar bleibt außerdem das System, nach dem die einzelnen Texte in unterschiedlichen Schriftstärken und Satzspiegeln gesetzt sind. Dies unterminiert leider die Klarheit, die in der Aufteilung der Lesestücke auf ungestrichenem und der Bildstrecken auf gestrichenem Papier angelegt ist.
Maximilian Liesner

Tatiana Bilbao, Nile Greenberg, Ayesha S. Ghosh (Hrsg.): Two Sides of the Border. Reimagining the Region. Photographs by Iwan Baan. In collaboration with Yale School of Architecture, Paperback, 488 S., 350 farb. und s/w. Abb., Englisch, 35,– Euro, Lars Müller Publishers, Zürich 2020, ISBN 978-3-03778-608-6

Iwan Baan, Tijuana, Baja California 2018

Iwan Baan, Tijuana, Baja California 2018

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