tatort

Modell für den Mittelstand

Wieder einmal fahnden wir nach einem Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Welches Gebäude suchen wir, wo steht es, und wer hat es entworfen? Lösungsvorschläge können Sie per Post, Fax oder E-Mail an die Redaktion senden. Unter den Einsendern der richtigen Antwort verlosen wir ein Buch. Einsendeschluss ist der 18. November.

Beim „tatort“ im Südwesten Deutschlands handelt sich um drei miteinander verbundene Wohneinheiten in einem weltberühmten Ensemble von Häusern. Ein Konsortium von Architekten und Unternehmern hatte in einer südwestdeutschen Großstadt den Bau einer Mustersiedlung angeregt, bei der der Öffentlichkeit neueste technische und soziale Errungenschaften präsentiert werden sollten. Zum Ausstellungsleiter wurde ein Aachener Architekt ernannt, der in Berlin an einer neuen Architektur arbeitete, die den Intentionen des Konsortiums weitgehend entsprach. Der Aachener lud eine Gruppe annähernd Gleichgesinnter aus mehreren Ländern ein, sich mit Entwürfen an der Bauausstellung zu beteiligen. Unter den heute nahezu legendären Architekten war auch ein junger Niederländer, dem mit dem Entwurf des Tatorts der berufliche Durchbruch gelang. Auf Wunsch des Ausstellungsleiters entwarf er seine Reihenhäuser als Modell für mittelständische Familien, von denen er zwei nach seiner Vorstellung eines modernen Lebens selbst ausstattete. Die Ausstellung, in dessen Rahmen das Gebäude entstand, stand lange Zeit unter einem wenig günstigen Stern. Die räumliche Distanz der Architekten zum Bauplatz führte zu erheblichen Diskrepanzen zwischen ihnen und dem örtlichen Bauleiter, der mitunter eigenmächtig Veränderungen an den oft unzureichenden Plänen der Kollegen vornahm. Dies gilt auch für den „tatort“: Statt der vom Architekten vorgesehenen Stahlkonstruktion kam herkömmliches Mauerwerk zur Ausführung. Und die Herkunft der offenbar originalen lavendelblauen Farbfassung der Außenwände ist bis heute unklar: In einem Brief sprach sich der Architekt für eine gebrochen weiße Farbgebung der Baukörper aus. Lediglich die Eingangsvorbauten wünschte er sich in Grau und die Fensterrahmen in Stahlblau. Die „coole“ Einrichtung mit Stahlrohrmöbeln, mit der der Architekt seiner Idee eines sozialen Wohnungsbaus für ärmere Leute und einer optimierten Haushaltsführung Ausdruck geben wollte, fand seinerzeit nicht überall Zustimmung. Der Kontaktarchitekt eines anderen holländischen Baumeisters, der ebenfalls eine Reihenhauszeile für die Ausstellung errichtete, urteilte, der Wohnraum sei „eine schöne Garage oder ein schönes Fabrikdetail“. „Er verträgt keine Möbel und wird durch sie zwitterhaft. Ein Kleinauto würde seine einzig richtige Heimat darin finden“. Besondere Kritik erntete das „Mädchenzimmer“, das fast ohne Belichtung auskommen musste. Eine vom Ausstellungsleiter zu Rate gezogene Expertin für Wohngrundrisse bemängelte die Disposition genauso wie später die Baupolizei, ohne dass der junge Mann einlenkte. Ihm ging es offenbar vielmehr darum, ein provokantes Beispiel für eine gänzlich neue Lebensform zu schaffen, die eigentlich ohne Personal auskommen sollte. Später erprobte er seine Ideen in der Sowjetunion und in der DDR.

Der „tatort“ der Ausgabe 4/13 war die „Reformwohnanlage“ in der Sickingenstraße 7-8 in Berlin-Moabit, die Alfred Messel 1893–1894 für den Berliner Spar- und Bauverein errichtete. Gewinner des Buches ist Peter Scheller aus München.

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