Neu im Club: Medine Altiok Architektur, Zürich und Aachen

Eine Wanderin zwischen den Welten

Sanft fällt das Licht durch die zum arabesken Ornament gesetzten Klinker. Helle Sandtöne unterstreichen die südliche Anmutung des zurückhaltenden Baus auf dem Friedhof in Hamburg-Finkenried. Ein Wasch- und Gebetshaus hatte sich die muslimische Gemeinschaft, die in diesem Viertel mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, schon länger gewünscht. Doch erst eine geplante Autobahntrasse quer über den alten Friedhof öffnete den Weg dafür. Weil muslimische Gräber für die Trasse umgebettet werden mussten, ging die Autobahngesellschaft als Bauherr auf das Anliegen ein. Eine Kompensation, die Medine Altiok die Möglichkeit gab, ihre Idee eines speziellen Sakralbaus zu verwirklichen. Eine Einschränkung gab es für Altiok allerdings: Das muslimische Wasch- und Gebetshaus solle sich auf dem Gelände des christlichen Friedhofs nicht aufdrängen, war die Auflage der Stadt. „Es soll muslimisch aussehen, aber Symbole und Ornamente auf den ersten Blick zurückhaltend sein“, bringt Altiok die bemerkenswerte Vorgabe auf den Punkt. Vor allem durfte die Kuppel nicht von außen zu sehen sein. So überlegte die Architektin, wie sie die wichtige Kuppel elegant verschwinden lässt. Ihre Lösung: Ein Dach darüber setzen. Erstaunlich, dass es trotzdem so leicht und unaufdringlich wirkt. Der gebaute Kompromiss erscheint nicht als solcher.

Medine Altiok Architektur, Muslimisches Wasch- und Gebetshaus Friedhof Finkenried, Hamburg 2017 – 2020, Foto: Jens Franke

Es sind genau diese Herausforderungen, vor die sich Architektinnen wie Medine Altiok gestellt sehen, wenn sie sich einer religiösen Bauaufgabe widmen. Ein Minarett auf einem christlichen Friedhof? „Das ging natürlich gar nicht. Es war auf der Wunschliste der Imame, aber nach meinen Recherchen ist es nicht unbedingt notwendig“, erklärt Altiok. Für ihr Projekt hat sie sich von Einflüssen aus der arabischen Welt und islamischen Bautraditionen inspirieren lassen. Sie war dafür in Jordanien, Marokko, Bosnien-Herzegowina und Anatolien unterwegs. „Ich habe mich gefragt, welche Elemente haben denn diese muslimischen Architekturen? Es gibt ja nicht nur die eine muslimische Architektur.“ Das Wasch- und Gebetshaus im hohen Norden, gebaut für eine Gegend mit hohem Migrationsanteil, erinnert an jordanische Wüstenschlösser. Für muslimische Bestattungen spielt nicht nur die Ausrichtung der Gräber nach Mekka, und damit nach Osten, eine Rolle. Auch die traditionelle Waschung gehört zum festen Bestandteil des Verabschiedungsrituals. Etliche christliche Friedhöfe haben mittlerweile muslimische Grabfelder, eigene Bauten sind jedoch noch immer eine Ausnahme. Altiok hat aus den verschiedenen Einflüssen eine Synthese formuliert, die sich zurücknimmt, gleichzeitig aber einen bewussten Akzent setzt. „Ich habe lange überlegt, was ich mit dem Dach mache. Und schließlich diese Zeltform aus Zinkblech entworfen.“ Umlaufende Muster durch hervorgesetzte Klinker greifen die große Tradition geometrischer Ornamente auf, die gelochten Fenster erinnern an die Maschrabiyya, die für die islamische Baukultur typischen, oft aufwendig gestalteten Holzgitter. Es sind jedoch nicht nur ästhetische und gestalterische Aspekte, die Altiok bei diesen Bauaufgaben interessieren, sondern auch interkulturelle Zugänge und Fragen der sozialen Integration. Beim Projekt in Hamburg-Finkenried setzte sie auf die intensive Rücksprache mit den Akteuren vor Ort.

Medine Altiok, Foto: Jasmin Schuller

Medine Altiok ist in Aachen aufgewachsen und kommt aus einer Familie von Tscherkessen, einer ethnischen Minderheit in der Türkei. Ihre Eltern gingen Ende der 1960er Jahre nach Deutschland. Es sei zu Hause recht traditionell und konservativ zugegangen, sagt Altiok. Die Migrationserfahrung ihrer Familie, die Vermittlung der traditionell-religiösen Werte hätten aber ihren Sinn für Ästhetik und Ruhe in der Gestaltung geschärft. Vielleicht komme daher auch ihr Faible für religiöse Bauaufgaben. Gern erinnert sie sich an ihre Ausbildung an der AA in London. „Das war sehr intensiv dort. Man musste sehr erfinderisch und eigenständig sein. Ich habe dort auch das Interesse für atmosphärische Räume und die sinnliche Wirkung von Materialien entdeckt.“ Anders als an der RWTH Aachen, dort sei die Betreuung der Studierenden seinerzeit nicht so gut gewesen, erinnert sich Altiok an ihre Studienzeit in den 1990er Jahren. „Ich habe vieles technisch nicht verstanden, vor allem in Fragen der Beziehung von Gestaltung und Konstruktion.“ Doch dann hörte sie David Chipperfield bei einem Vortrag und ihre Welt stand plötzlich Kopf. „Er war damals noch nicht so bekannt. Ich war sehr inspiriert von seinem Vortrag. Und zum ersten Mal fand ich etwas, was ich wirklich gestalterisch gut fand. Und, was soll ich sagen, Chipperfield hat mein Leben total verändert.“ Medine Altiok schätzt die verschiedenen Perspektiven, denen sie im Laufe ihrer Ausbildung und bei ihren beruflichen Stationen begegnet ist. Sie lehrt an der BILGI University in Istanbul, an der AA in London und an der ETH Zürich Architektur und Entwurf. Eine Welt der Kontraste. Von jedem dieser Orte nimmt sie entscheidende Dinge für ihre eigene Arbeit als Architektin mit. „Die Schweiz hat mir die Idee nahegebracht, Architektur aus dem Ort und der baukulturellen Geschichte heraus zu denken. In London wiederum habe ich erfahren, wie wichtig Narrative in der Architektur sind. Das Projekt muss eine gesellschaftsrelevante Geschichte haben, die aus dem Kontext kommt. Und dieses Erzählen von Geschichten war total wichtig an der AA.“ Sie ist, wenn man so will, eine Wanderin zwischen den Welten, auch heute noch. Altiok hat zwei Standbeine in Aachen und in Zürich mit jeweils zwei Mitarbeiterinnen. Es ist auch ein Ausdruck ihres Lebens in verschiedenen Räumen, Kulturen, Mentalitäten. Ihre eigene Weltläufigkeit und Interesse an unterschiedlichen Herangehensweisen an Architektur findet sich im Projekt „Mittelmeerland“, das Thema ihrer Doktorarbeit und einer Workshopreihe, die sie gemeinsam mit Stephanie Tunka auf die Beine gestellt hat. Mittelmeerland ist ein urbanes Forschungsprojekt, das sich der Zukunft des mediterranen Raumes widmet und dabei anhand von zehn Hafenstädten – darunter Algier, Dubrovnik, Genua, Alexandria – nach den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und städtebaulichen Potentialen fragt, die diese Region als Kreuzungspunkt verschiedener Kontinente und Kulturen bietet.

Dienstgebäude des Friedhofs Uetliberg Zürich, Publikumsbereich, Rendering:
Medine Altiok Architektur

Medine Altioks jüngstes Projekt ist erneut ein Friedhof, diesmal ein ursprünglich christlicher. Auf dem Friedhof Uetliberg oberhalb von Zürich werden vier Gebäude nach 50 Jahren bedarfsgerecht instandgesetzt. Die Gebäude sollen konfessionsneutral gestaltet werden, das heißt, für alle Religionen nutzbar sein. Altiok setzt dabei auf eine behutsame Vorgehensweise. Die „Sinnlichkeit“ der gut mit der Landschaft korrespondierenden Bauten, schlicht und zurückhaltend, auf weißen Putz unterschiedlicher Körnung setzend, möchte Altiok unbedingt erhalten.

Einen Masterplan gibt es hinter all ihren Projekten an den verschiedenen Standorten, zwischen denen sie pendelt, nicht. Es sind eher die durch verschiedene Einflüsse inspirierte Ideen, die ihre Arbeit an und mit Architektur prägen. So verfolgt sie etwa, neben der Betreuung der beiden Büros, ein Projekt mit Studierenden der RWTH Aachen: Im Osten der Türkei, in den tscherkessischen Dörfern, der alten Heimat ihrer Familie, gibt es noch viele sehr traditionelle, auf einfache Materialien setzende Bauten, die aber zum Teil sehr zerfallen sind. Mit den Studierenden baut sie nun ein altes Dorfhaus, bestehend aus Stein, Kalk, Lehm und Holz, wieder auf. „Ich möchte gemeinsam mit Studierenden und BewohnerInnen aus den vorhandenen Materialien von den anderen alten Häusern etwas Gemeinnütziges fürs Dorf bauen.“ Das fertige Projekt soll schließlich in eine Stiftung umgewidmet werden. „Manche Dinge kommen einfach zu mir. Das ist alles gar nicht so geplant, sondern ergibt sich durch meine Neugier und Offenheit.“
Carsten Dippel

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