Wohnhauserweiterung von Wirth=Architekten in Grasberg

Tugendhaft

Mit der Villa Tugendhat ist Ludwig Mies van der Rohe zwischen 1929 und 1930 eines der wohl schönsten Wohnhäuser gelungen. Die großzügige Villa für das Ehepaar Fritz und Grete Tugendhat im tschechischen Brünn gilt seitdem als eine der Inkunabeln moderner Architektur und zählt neben anderen Klassikern zum Standardrepertoire, an dem sich Studierende ebenso abarbeiten wie sie gestandene Architektinnen und Architekten als stete Inspirationsquelle angeben. Irgendwo, ganz tief drinnen, träumen wohl die meisten Gestalter davon, einmal ein ähnlich bestechendes Werk zu realisieren.

Doch was tun, wenn man statt des Auftrags für eine Unternehmervilla auf dem Hügel ein einfaches Siedlungshaus erweitern soll, das unspektakulär in der Reihung eines typischen niedersächsischen Straßendorfes zwischen Bremen und Worpswede steht? Diese Frage – und die Eindrücke des wenige Jahre zurückliegenden Studiums – vor Augen, standen Wirth-Architekten (siehe der architekt 4/17, S. 82-85) vor dieser Aufgabe.

Gelöst haben die beiden Brüder Jan und Benjamin Wirth die Aufgabe mit angemessener Ruhe und Zurückhaltung. Aus den bestehenden 177 Quadratmetern Wohnfläche des kleinen Satteldachhauses haben sie mit drei Interventionen 211 Quadratmeter gemacht. Im Erdgeschoss wurde das Haus mit einem Anbau auf quadratischem Grundriss um einen weiteren Raum erweitert. Dreiseitig von je vier Fenstern in klassischer Mauerwerksordnung umgeben, öffnet er sich zum Garten hin und dient zudem als Terrasse für das Obergeschoss. Dessen Wohnfläche wurde mit zwei Dachgauben erweitert. Ausgeführt sind die drei Interventionen in Ziegel, das Mauerwerk kommt ganz klassisch mit traditionellen Stürzen daher. So wird die Materialität des Bestands fortgeführt, was die Anbauten mit dem Bestehenden harmonisiert. Weil aber ein anderer Stein für die Erweiterungen eingesetzt wurde, bleiben alt und neu als Schichten unterschiedlicher Zeiten subtil lesbar.

„haus tugendhaft“ nennen die Brüder das Projekt, was die formale Strenge der drei relativ kleinen Eingriffe ironisch bricht. Klein geschrieben, wie es bei den Protagonisten der Moderne en vogue war, weist der Titel sowohl auf die eingangs geschilderte Architektur in Brünn hin, und konterkariert gleichzeitig augenzwinkernd die eigene Zurückhaltung vor Ort in Niedersachsen.

Dieses Augenzwinkern und Wissen um die Geschichte findet sich auch in den Fotos, die der Bremer Fotograf Caspar Sessler vom Haus gemacht hat. Gemeinsam mit Jan und Benjamin Wirth hat er dabei eine Serie von Bildern entwickelt, bei denen das Gebäude mit Figuren aus Jacques Tatis Film „Mein Onkel“ umstellt ist. In diesem Klassiker des modernen europäischen Kinos ist der von Tati selbst gespielte Protagonist, Monsieur Hulot, mit den Neuerungen der Moderne konfrontiert. Anders als im Film aber erscheint der Bruch zwischen den Epochen beim „haus tugendhaft“ nicht als offene Zäsur, sondern als feine Veredelung des Vorgefundenen.

David Kasparek

Wirth=Architekten BDA, haus tugendhaft, Grasberg 2012–2017
Projektstandort: Rautendorfer Straße, 28879 Grasberg
BGF: 211qm (Bestand: 177qm)
Fotos: Caspar Sessler

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