BDA-Matinee auf der Biennale in Venedig

Umzug der Menschheit

Der deutsche Pavillon ist offen. Möwen, Wellen und Vaporetti sind lautstark zu hören durch die neuen Öffnungen, die der diesjährige deutsche Beitrag mit Zustimmung der venezianischen Denkmalpflege in die Mauern des Pavillons in der Fassung von 1938 gefräst hat. Besucher kommen und gehen an diesem ersten Biennale-Tag, auch während des Matinee-Symposiums des BDA im Hauptschiff. Dessen Titel „Der Umzug der Menschheit“ hat eine fast endzeitliche Dimension. BDA-Präsident Heiner Farwick erläutert: „Nicht wir haben uns dieses Schlagwort ausgedacht, wir beziehen uns damit vielmehr auf einen der profiliertesten Wissenschaftler zum Thema der globalen Umweltveränderungen: auf den Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Joachim Schellnhuber.“

Farwick weiter: „Schellnhubers These ist, dass die erschütternden Ereignisse von Krieg und Zerstörung, von Flucht und Notunterkünften erst der Anfang immenser weltweiter Fluchtbewegungen sind: Denn nicht nur Krieg und Bürgerkrieg, sondern die Unbewohnbarkeit ganzer Landstriche in Afrika und Asien infolge des Klimawandels wird eben den genannten Umzug der Menschheit auslösen, neben dem die heutigen Flüchtlingsströme klein erscheinen werden.“

Auf die Frage nach der Unterbringung von Flüchtlingen und die Antworten der Architektenschaft darauf bezieht sich Bundesbauministerin Barbara Hendricks in ihrer Eingangsrede. „Ohne gute Architektur geht fast nichts”, ist dabei einer ihrer Kernsätze. Denn die Ministerin teilt viele Positionen der Architektenschaft und des BDA und stellt schließlich fest: „Der Berufsstand ist gefragter denn je!” Als Mitglied der Bundesregierung kann sie nicht Einfluss auf die Gesetzgebung der Bundesländer nehmen, sie verspricht gleichwohl ein Maßnahmenpaket zu einer „Wohnungsbau-Offensive”. Denn: „Wir benötigen nicht nur bezahlbaren Wohnraum für die Ankommenden, sondern auch für die, die bereits in unseren Städten wohnen. Nur so kann eine Integration inmitten der Quartiere erfolgen und der soziale Frieden gewahrt werden.” Hendricks will steuerliche Anreize schaffen, die Bauvorschriften auf „Vereinfachungspotenzial” überprüfen und die Mittel für den Sozialen Wohnungsbau verdoppeln. Die Durchmischung von Arbeiten und Wohnen will sie fördern, dazu soll eine neue städtebauliche Kategorie mit dem Arbeitstitel „Das urbane Gebiet” geschaffen werden, wo die bisherige strikte Trennung in den Bebauungsplänen gelockert werden soll.

Matthias Böttger, künstlerischer Leiter des DAZ, moderiert dann die Debatte. Schellnhuber wiederholt seine Mahnung vor unübersehbaren Migrationsströmen von bis zu vier Milliarden Menschen und schließt rhetorisch: „Werden wir transformiert? Oder werden wir proaktiv gestalten? Die Option ‚Warten und hoffen, dass nichts passiert‘ existiert jedenfalls nicht mehr!“

Die Integrations- und Migrationsforscherin Naika Foroutan erläutert, dass Zuwanderungsgesetz und Staatsbürgerschaftsgesetz von 2001 das „ius sanguinis“ ersetzt und ein neues Narrativ von Deutschland als Einwanderungsland eröffnet haben. Wir bräuchten seitdem keine rekonstruktive Leitkultur, sondern ein politisches Leitbild zur Gestaltung von Zuwanderung. Die „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 sei nur eine – längst behobene – kleine Konfusion gewesen. Die Zuwanderung von einer Million Menschen stelle ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands dar und sei leicht integrierbar, beispielsweise durch attraktive Gestaltung ländlicher Regionen.

Eine Relativierung der quantitativen Dimension derzeitiger Zuwanderungsszenarien liegt auch dem Australier Doug Saunders, Autor des Buches „Arrival City“ und Berater des deutschen Beitrags, am Herzen. In historischer Perspektive stelle die Migration der Jahre 2000 bis 2014 nach Westeuropa den „niedrigsten Level an Flüchtlingen seit den späten 1840er Jahren“ dar. Seiner These von wünschenswerten „multiplen Identitäten“ in den Städten, also räumliche Ballungen „von Türken, Slawen, Syrern“, widerspricht Barbara Hendricks mehrfach, da eine Gettobildung nicht integrationsfördernd sei.

Thomas Willemeit schließlich, einer der Gründungspartner des Büros Graft, berichtet von selbstgestellten Aufgaben der Architekten. „Man müsste doch mal…“ reiche nicht, vielmehr müssten Eins-zu-eins-Interventionen gewagt, Projekte co-initiiert, Stiftungen gegründet, Wissensmodelle geteilt und Risiken eingegangen werden. Das Projekt „Solarkiosk“ in Afrika sei ein Beitrag für dezentrale Energiewirtschaft.

Die Diskussion ist noch im vollen Gange, da kommt auf einmal Unruhe im deutschen Pavillon auf: Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi erscheint mit seiner Entourage im Eingang, grüßt, sagt: „Lasst euch nicht stören” und zieht weiter. Der BDA freut sich dennoch über so hohen Besuch.

Benedikt Hotze

Artikel teilen:

Ein Gedanke zu “Umzug der Menschheit

  1. Pingback: Bund Deutscher Architekten » Ministerin Hendricks beim BDA auf der Biennale: „Ohne gute Architektur geht fast nichts!”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert