Buch der Woche: SOS Brutalismus

Verehrungswürdige Lebenszeichen

Schon vor etwa sechs Jahren hatte sich ein international besetztes Symposium in Berlin zum Ziel gesetzt, „Kriterien und Maßstäbe für die Bewertung der brutalistischen Architektur zu begründen und zu erproben.“ Dabei galt es auch, „rechtzeitig für diese bedrohte Baukultur eine sensible Wahrnehmung zu kultivieren.“ Versuchte man sich im Jahr 2012 einem „unübersichtlichen Phänomen anzunähern“, wie Ursula Baus in einer in der Bauwelt veröffentlichen Rezeption der Tagung „Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie“ trefflich zusammenfasste, sind die Kriterien zur Auswahl von Bauten inzwischen schärfer umrissen. Nicht zuletzt eben genau wegen dieser Tagung in Berlin.

Warren&Mahoney, Christchurch Town Hall, Christchurch, Neuseeland 1972, Foto: Warren&Mahoney ca. 1972

Auch aus diesem Grund liegt die Dokumentation des Symposiums als broschiertes Beiheft nun einer bemerkenswerten Publikation bei. Das gut 530 Seiten umfassende und in Leinen gebundene Buch „SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme“ erscheint zur AusstellungSOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!“, die noch bis 2. April im Deutschen Architekturmuseum und vom 3. Mai bis 6. August im Architekturzentrum Wien Az W zu sehen ist (siehe: der architekt 6/17, S. 16-17). Die Publikation, so Mitherausgeber Oliver Elser in seinem einleitenden Text, will dazu aufrufen „…den Brutalismus neu zu entdecken“ und ist dabei nicht nur – aber auch – genau das, was ihr Titel verspricht: eine internationale Bestandsaufnahme. Darüber hinaus aber wird ein weiteres, hehres Ziel verfolgt. Der Brutalismus, so die Herausgeber des Buchs (und Macher der Frankfurter Ausstellung) Oliver Elser, Philip Kurz und Peter Cachola Schmal, sei zu würdigen als „regional verankerte (…) Architektur, die den ausführenden Handwerker genauso feiert wie den Architekten oder die Architektin, denen es immer wieder gelungen ist, den Verhältnissen ein singuläres Werk abzutrotzen.“

Johannes Möhrle, Hauptpostamt, Marburg 1965–1976, Foto: Felix Torkar 2017

Wie unterschiedlich diese Verhältnisse waren beleuchten die Einzeltexte der nach Regionen geordneten Kapitel: „Afrika“, „Nordamerika“, „Lateinamerika“, „Naher und Mittlerer Osten“, „Russland, Zentralasien und Kaukasus“, „Ostasien“, „Südasien und Südostasien“, „Westeuropa“, „Osteuropa“, „Großbritannien“, „Deutschland“ sowie „Australien und Ozeanien“.

Brigitte und Christoph Parade, Gymnasium, Hückelhoven 1963–1974, Foto: Christoph Parade ca. 1974

Analog zur Ausstellung fächert das übersichtlich gesetzte Buch ein Panoptikum brutalistischer Architektur aus allen Erdteilen auf. Karten zu Beginn eines jeden Kapitels verzeichnen und benennen die im folgenden gezeigten Projekte und vermerken farblich, wie es um sie bestellt ist: blau steht für „denkmalgeschützt“, grau für „in Nutzung“, rot für „bedroht“ und schwarz für „abgerissen“. Denn brutalistische Architektur ist nicht nur in bestimmten Schichten wieder in Mode, in weitaus größeren Teilen der Gesellschaft sind Architekturen dieser Epoche nach wie vor schlecht beleumundet. Entsprechend bedroht sind teils herausragende gebaute Beispiele – und das trotz Denkmalschutz, unter dem einige dieser Bauten inzwischen stehen. Zu jedem Kapitel gibt es außerdem einen kurzen einführenden Text, der die regionalen Besonderheiten der jeweiligen Brutalismus-Ausprägung benennt und einordnet.

London Borough of Camden Architect’s Department (Neave Brown), Alexandra and Ainsworth Estate, London, Großbritannien 1967–1979, Foto: Gili Merin 2017

In der Ausstellung nur angerissen, bilden die Fallstudien gemeinsam mit den vorangestellten Essays im Buch ein lesenswertes theoretisches Fundament zum Thema. Elain Harwood beleuchtet britische Universitätsbauten, Aziza Chaouni Marokkos Entwachsen der postkolonialen Moderne, Maroje Mrduljaš und Ana Ivanovska das japanisch-jugoslawische Experiment Skopjes, Ari Seligmann japanische Bürger- und Kulturzentren und Timothy M. Rohan Brutalismus als Städtebau am Beispiel New Havens. Exemplarisch sei hier nur der Text von Wolfgang Pehnt angerissen, der nicht nur gewohnt profund hinsichtlich der kritischen Betrachtung der Bauten jener Stilrichtung schreibt, sondern auch mit lakonischem Augenzwinkern ob der saloppen Findungsphase der Begrifflichkeit, unter der seit Banham Bauten unterschiedlichster Ausprägung subsumiert werden.

Fritz Wotruba, Dreifaltigkeitskirche, Wien-Mauer, Österrreich 1971–1976, Foto: Wolfgang Leeb 2011

Gekonnt zeigt Pehnt die historischen Verlaufslinien des Typus „Kirche“ auf und verweist auf die Wichtigkeit von Le Corbusiers Klosterbau Sainte-Marie de La Tourette für „Kirchen in Zeiten des Brutalismus“. Denn obschon La Tourette augenscheinlich das Vorbild vieler anderer brutalistischer Bauten ist wie der Boston City Hall und diversen darauf folgenden Variationen war, gestattete der Sakralbau, was profane Häuser selten erlaubten: „… betretbare Großskulpturen, vorzugsweise aus massivem Ortbeton, gestalterische Freiheiten, die mit sakraler Ikonografie gerechtfertigt wurden.“ Und so wirken diese Bauten, wie Pehnt ausführt, wie Kompensationen. Kompensationen für die „gnadenlose Monotonie der Neubausiedlungen“ jener Tage einerseits wie für die „zunehmende Entfernung der Gesellschaft von der Kirche“ andererseits. So verbinden sich mit der Architektur dieser Epoche Emotionen, die breiter und tiefer ausfallen, als bei den meisten profanen Bauten.

John Madin, Birmingham City Library, Birmingham, Großbritannien, 1969–1973, 2016 abgerissen, Foto: Jason Hood 2016

Die Gestaltung von „SOS Brutalismus“ nimmt geschickt die formalen Linien der Publikation „Brutalismus in der Architektur“ von Reyner Banham auf, die 1966 im Karl Krämer Verlag von Jürgen Joedicke mit dem Titel „Dokumente der Modernen Architektur“ herausgegeben wurde. Das damalige Design des Schutzumschlags wie auch das des eigentlichen Buches von Hanns Lohrer scheinen in Satz, Typografie und Farbigkeit in der nun vorliegenden Publikation als feine Erinnerung auf. Wie auch die Ausstellungsgestaltung im DAM in Frankfurt stammt die grafische Gestaltung des Buchs von Yvonne Pietz und Olaf Rahlwes. Zusammengehalten werden die beiden Bücher durch eine Pappbanderole – eine dem Thema angemessene Materialwahl.

Branislav Jovin, Institut für Stadtplanung, Belgrad, Serbien 1967–1970, Foto: Relja Ivanic 2016

Wie sehr die „Architektur, (…) den ausführenden Handwerker genauso feiert wie den Architekten“ zeigt sich unter anderem an einem Foto der Baustelle der Canberra Defence Offices (Campbell Park Offices, Canberra, Australien) von Max Dupain aus dem Jahr 1971. Zwei Bauarbeiter bearbeiten dort die vorfabrizierten Fassadenelemente des Bürohauses: beide hinterlassen ihre ganz eigenen individuellen Spuren am Haus, in dem sie mit einem einfachen Hammer die vorstehenden Betonlisenen abschlagen. Eine personelle Intensität, die heute kaum noch vorstellbar wäre bei einem Gebäude dieser Größenordnung.

Herwig Udo Graf, Kulturzentrum, Mattersburg, Österreich 1973–1976

Wolfgang Pehnt macht hierin den Reiz des Brutalismus aus: „Zufallsspuren am schalungsrauen Beton galten als Lebenszeichen, verehrungswürdig wie die Runzeln eines in Würde gealterten Antlitzes.“ Genau das, die Handwerklichkeit im Gesamtwerk der oft riesenhaften architektonischen Skulpturen, macht wohl auch heute in unserer westlichen Welt einen guten Teil der Faszination des Brutalismus aus. Dass das Buch zusätzlich eine ebenso fundierte wie umfängliche Sammlung internationaler Beispiele dieses Baustils liefert, ist jedoch seine eigentliche Leistung.

David Kasparek

SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme, hrsgg. von Oliver Elser, Philip Kurz, Peter Cachola Schmal, 716 S., 686 farb. und 411 sw Abb., Gebunden mit broschiertem Beiheft, 68,– Euro, Park Books, Zürich 2017, ISBN 978-3-03860-074-9

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