Buch der Woche: Bildungslandschaften

Verflechtungen

Durch den PISA-Schock im Jahr 2001 wurde in der Bundesrepublik eine breite Debatte über das Bildungssystem angestoßen. Die deutschen Schüler hatten damals im internationalen Vergleich so erschreckend schlecht abgeschnitten, dass eine Bildungsreform unvermeidlich schien. Im Zuge des Konjunkturpakets II (2009) sollten daher elf Milliarden Euro in die Sanierung und Verbesserung von Bildungseinrichtungen gesteckt werden. Die Diskussion über die Defizite und Potentiale im Bildungswesen hat seitdem viele Früchte getragen. Immer wieder durchgesetzt hat sich dabei die Erkenntnis, dass Bildung nicht nur in der Schule stattfindet, sondern überall geschehen kann: in Kultureinrichtungen, Vereinen, Jugendclubs oder im öffentlichen Raum. Ausgehend von dieser These wurden vermehrt Projekte entwickelt, in denen Stadtentwicklung und Bildung als zwei ineinandergreifende Prozesse begriffen werden. Eine Forschergruppe von Erziehungs- und Planungswissenschaftlern hat dem Zusammenhang zwischen den beiden Handlungsfeldern nun eine Publikation unter dem Titel „Gebaute Bildungslandschaften. Verflechtungen zwischen Pädagogik und Stadtplanung“ gewidmet.

Die Autorengruppe des Buches, bestehend aus Angela Million, Thomas Coelen, Anna Juliane Heinrich, Christine Loth und Ivanka Somborski hat für die Untersuchung des Themas bereits entstandene Bildungslandschaften, in denen Einrichtungen als räumlich-bauliche Einheit sichtbar werden, unter die Lupe genommen. Darüber hinaus hat das Forscherteam auf theoretischer Ebene untersucht, „welche inhaltlichen und räumlichen Schnittstellen und Verflechtungen“ es derzeit „zwischen Bildung und Stadtentwicklung auf den Maßstabsebenen Bund, Bundesländer, Kommunen, Gesamtstadt, Stadtteil und Quartier“ gibt. Für das Forschungsunternehmen wurden zahlreiche Experteninterviews geführt, öffentliche Dokumente ausgewertet und insgesamt acht gebaute Bildungslandschaften begutachtet, darunter das „Bildungszentrum Tor zur Welt“ in Hamburg, die „Bildungslandschaft Altstadt-Nord“ in Köln sowie der „Campus Rütli“ in Berlin. Bildungslandschaften zeichnen sich durch eine räumlich-physische Verbindung mehrerer Einrichtungen aus, die sowohl formell (Schule, Universität), als auch informell (Verein, Freizeiteinrichtung) sein können.

Wie Stadtplanung und Bildungswesen derzeit verflochten sind und wie Akteure aus den Bereichen die Wechselwirkung der Bereiche bewerten, haben die Autoren mittels Experten-Interviews untersucht. Diese wurden „mit Funktionsträgern von Bundes- und Landesministerien für Bildung, Familie und Bauen sowie den bundesweit agierenden Spitzenverbänden durchgeführt“. Die Interviews sind dabei nicht im einzelnen wiedergegeben; stattdessen wurde versucht, aus der Bandbreite an Gesprächen einen Konsens in den jeweiligen Tätigkeitsfeldern abzuleiten. So sei deutlich geworden, dass die Akteure den hauptsächlichen Handlungsbedarf in „benachteiligten Quartieren“ sähen.

Ziel sei es hierbei, eine möglichst große Bildungsgerechtigkeit sowie Teilhabechancen zu erreichen – ein Nachholbedarf, den PISA 2001 in drastischem Maße aufzeigte. Zielgruppe bei den Bemühungen um Bildung und Stadtplanung seien insbesondere Kinder und Jugendliche. Bildungsangebote für Erwachsene spielten trotz des anerkannten Konzepts vom „Lebenslangen Lernen“ kaum eine Rolle. Ein weiteres Defizit sehen die Autoren darin, dass der öffentliche Raum bislang nicht als erweiterter Bildungsraum gesehen werde, beispielsweise Naturerfahrungsräume, Plätze und Schulwege. Stattdessen konzentrierten sich die Maßnahmen auf bundes- und landespolitischer Ebene vornehmlich auf die Schule und den Schulbau.

Bei den acht konkreten Umsetzungen, die die Autoren für das Forschungsprojekt begutachtet haben, wurden Bildungslandschaften unterschiedlichen Ausmaßes und in verschiedenen Umsetzungsphasen berücksichtigt. Hierzu zählt unter anderem der „Campus Rütli“ in Berlin-Neukölln. Die vormalige Hauptschule in Neukölln hatte im Jahr 2006 durch einen Brandbrief des Lehrerkollegiums deutschlandweite Aufmerksamkeit der Medien erreicht. Der Schulalltag sei von Gewalt und Respektlosigkeit geprägt, das Lehrpersonal völlig überfordert gewesen.

Die Rektorin forderte daher eine Auflösung der Hauptschule „zu Gunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung“. Seitdem hat sich viel getan. Eine große Anzahl an Institutionen, darunter Kindertagesstätten, eine Gemeinschaftsschule, ein Jugendclub, eine Musikschule, eine Volkshochschule, mehrere Beratungseinrichtungen und weitere Partner beteiligen sich fortlaufend daran, bis 2018 den „Campus Rütli“ zu schaffen. Das Campus-Areal soll dabei für jeden offen sein und alle Bewohner des Quartiers erreichen, hierfür soll es architektonisch und städtebaulich attraktiver und einladender gestaltet werden. Damit soll letztlich auch das Quartier selbst aufgewertet werden, das seit den 1990er Jahren immer wieder als Problemkiez Schlagzeilen macht, wenngleich ebenso seit einigen Jahren eine Gentrifizierungstendenz wahrzunehmen ist. Zwar bezeichnen die Autoren die Einbindung der Einwohnerschaft zurzeit als wenig gelungen, dennoch sehen sie die Entwicklungen des „Campus Rütli“ insgesamt als erfolgreich an. Die Bildungslandschaft sei ein „gutes Beispiel dafür, wie eng die Entwicklung eines Bildungsstandortes und die Entwicklung eines gesamten Quartiers miteinander verflochten und aufeinander bezogen sein können“.

Als weiteres Beispiel für die Verknüpfung von Bildungswesen und Stadtplanung wird die „Bildungslandschaft Altstadt-Nord“ (BAN) in Köln angeführt. Die Planung und Umsetzung ging in diesem Fall von einer Reihe an Bildungs- und Sozialeinrichtungen rund um den Kölner Klingelpützpark aus sowie von den kommunalen Ämtern und den Montag Stiftungen (Bonn). Die Bedeutung von Stiftungen wird innerhalb der Publikation mehrfach betont: Da ihre administrativen Abläufe sehr einfach sind, können sie schneller als andere Akteure handeln und sind zudem keinen „disziplinenbezogenen Restriktionen“ unterworfen. Das BAN in Köln, ein zusammenhängendes Bildungsareal, das sich rund um den beliebten Klingelpützpark entwickelt, ist für die Autoren „beispielgebend für eine intensive Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie ein zukunftsfähiger sozialräumlicher Lernort entstehen kann“.

Als Synthese von Experteninterviews und der Auswertung von gebauten Beispielen findet sich am Ende des Buches ein Kapitel, in denen konstitutive Elemente sozialräumlicher Bildungslandschaften zusammengefasst werden. Ebenso werden „gemeinsame Motive, die von den Akteuren vor Ort verbalisiert oder verschriftlicht wurden“, identifiziert. Als entscheidend wird hierbei gesehen, dass eine Vielfalt unterschiedlicher Institutionen an der Bildungslandschaft mitwirken und sich auf eine langfristige Zusammenarbeit einigen. Zudem sei es von Bedeutung, dass pädagogische und städtebauliche Gesamtkonzepte herausgearbeitet werden, die auch von außen wahrnehmbar sind und damit den Stand der Einrichtungen im Stadtbild vermitteln können. Insgesamt bringt die Publikation wichtige Erkenntnisse im Forschungsfeld zwischen Stadt- und Bildungsentwicklung zusammen und schafft für Akteure auf diesem Gebiet einen informativen Einblick, der Defizite und erfolgreiche Ansätze aufzeigt. Bemängeln könnte man dabei den spröden Sprachduktus, der die Lektüre zum Teil unnötig erschwert und durchaus etwas lebendiger hätte ausfallen können.

Elina Potratz

Angela Million, Thomas Coelen u.a.: Gebaute Bildungslandschaften. Verflechtungen zwischen Pädagogik und Stadtplanung, 240 S., 130 farb. und s/w Abb., 32,– Euro, Broschur, Jovis Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-86859-464-5

 

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