editorial

wasser in die suppe!

Auch am Ende dieses Jahres muss die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ das „Wort des Jahres“ küren. Es kann nur einen Entschluss geben: „Willkommenskultur“. Da ist alles drin, was den politischen, gesellschaftlichen  und ökonomischen Zustand der Gesellschaft beschreibt: demographischer Wandel, gesellschaftliche Diversität, Migration, Flüchtlinge, Integration, ethische Haltung. Aber auch die „sprachkritische“ Aktion von ehrenamtlich tätigen Germanisten und Linguisten, die jedes Jahr das „Unwort des Jahres“ aussucht, muss auf den gleichen Begriff kommen. Sie lenkt nach eigenem Bekunden „den sprachkritischen Blick auf Wörter und Formulierungen in allen Feldern der öffentlichen Kommunikation, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen“. Mit „Willkommenskultur“ lässt sich die ganze Misere der Flüchtlinge und Migranten übertünchen. Der Begriff sagt gar nichts, wenn nicht sogar sein Gegenteil!

Was heißt in Deutschland „Willkommenskultur“, von der Politiker auf allen Ebenen sprechen, von der Soziologen träumen und vor der rechte Bürger zittern? Wie gut, dass es das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Sitz in Nürnberg, gibt. Ihre Website erscheint in Deutsch, Türkisch, Russisch, Englisch und Französisch. Unter der Überschrift „Willkommenskultur und Anerkennungskultur“ finden sich aussagekräftige Sätze wie: „In der politischen Debatte wird der Begriff ‚Willkommenskultur’ vor allem im Sinne der Attraktivität Deutschlands für hochqualifizierte verstanden. Eine Willkommenskultur wird aber auch für bereits hier lebende Menschen mit Migrationshintergrund gefordert.“ Und weiter heißt es dort: „Legt man einen modellhaften Zuwanderungsprozess aus den drei Phasen ‚Vorintegration’, ‚Erstorientierung’ und ‚Etablierung in Deutschland’ zugrunde, so eignet sich die Verwendung des Begriffs Willkommenskultur insbesondere für die ersten beiden Phasen. Hier findet das eigentliche ‚Willkommen’ statt und hier können/sollen Angebote der Vorintegration dafür sorgen, dass Zuwanderer zielgruppengerecht auf das Leben in Deutschland vorbereitet werden.“ Willkommen sind demnach nur die Bruttosozialprodukt-wirksamen „Kräfte“, je nach Zeitpunkt ihrer Ankunft. Und die anderen?

Dankenswerterweise hat der Bamberger Soziologe Friedrich Heckmann den Begriff pragmatisch weiter definiert: „Willkommenskultur ist, wenn die Ausländerbehörde ihre Klienten freundlich behandelt, Einbü̈rgerungsfeiern stattfinden, Menschen ihre Vorurteile überdenken und ä̈ndern, ein Pensionär Migrantenkindern Nachhilfe bietet, eine Stadt ein türkisches Filmfestival veranstaltet, Menschen einschreiten, wenn ein Nachbar von anderen Nachbarn rassistisch beleidigt wird … und vieles mehr.“ Das hört sich so an, als ob Willkommenskultur ein Ding für Leute ist, die Geld, Bildung und Zeit haben und bereit sind, den Hauch eines Toleranzgedankens aufzubringen. Also für solche humanistisch gesinnten Wesen, die in der systemkapitalisierten und durch Hyper-Individualisierung deformierten Mutti-Demokratie als „Gut-Menschen“ verunglimpft werden.

Dabei brauchen wir diesen Typus: Der Staat und die Länder halten sich weitgehend schön heraus bei der Organisation der Integration. Die Kommunen, die sozialen, kirchlichen und privaten Initiativen tragen die Hauptlast des „Willkommens“ und der Integration. Während hier vorbildliche, oft ehrenamtliche Arbeit auf gutem Niveau geleistet wird, erdreisten sich angeblich „volksnahe“ Politiker, „Willkommenszentren“ auf dem afrikanischen Kontinent einrichten zu wollen. Der Vorsitzende der angeblichen ‚Alternative für Deutschland’, Bernd Lucke, meinte 2013, viele Migranten bildeten „eine Art sozialen Bodensatz – einen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt.“ Und um sie vor einem Leben in Hartz IV zu schützen, müsse man sie aus Deutschland fernhalten. Zynisch, wenn man aus Syrien stammt und gerade einem Krieg entkommen ist, oder aus einem der Hungerländer Afrikas kommt und hier täglich etwas zu essen hat.

Zum Glück ist Friedrich Heckmann noch einen Schritt weitergegangen, in dem er die Phänomene der Migration und Integration als gesellschaftliche Aufgabe definiert hat. Für ihn gehört neben den individuellen Bemühungen um Toleranz gegenüber anderen, der aktiven Unterstützung durch kleine und große Gruppen, die nötige Öffnung und Neuorientierung von Organisationen und Verwaltungen auch ein mehrheitliches Selbstverständnis der Gesellschaft als einer, die ihr Land als Ziel von Einwanderung begrüßt. Aus nationaler Sicht müsse ein „Wir“ entstehen, das auch bedeutet, das „Deutscher nicht nur sein kann, wer von deutschen Eltern abstammt, sondern dass Deutschsein auch mit unterschiedlichen Herkünften vereinbar ist“. Das bedeute aber auch, so Heckmann, dass für die Kultur der Zuwanderer Platz und Anerkennung sein müsse: „Die eigene Kultur in der Fremde wieder zu finden, hilft dem Fremden, dass er sich dort zu Hause fühlen kann“.

Das wäre wirkliche „Willkommenskultur“ im Zeichen des Toleranzgedankens. Wer Wien, Amsterdam oder Kopenhagen – allesamt Beispiele für gelingende Integration vieler verschiedener Ethnien – mit offenen Augen und Ohren besucht, weiß, was damit gemeint ist. In Deutschland kann von dieser Kultur der Gleichberechtigung noch lange nicht die Rede sein. Die Hüter des BIP und der heimischen Scholle werden sich erst von der „Normativität des Faktischen“ überzeugen lassen. Denn die „Gäste“ werden kommen, und sie werden bleiben. Auf einem nahezu antiken Küchentuch meiner Erinnerung stand der gehäkelte Spruch: „Sechs sind geladen, acht sind gekommen. Gieß Wasser zur Suppe, heiß’ alle willkommen.“ Einfacher kann man ein „Leitbild“ wohl kaum formulieren.

Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

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