Buch der Woche: Care-Arbeit räumlich denken

Who cares?

John Kenneth Galbraith, einer der führenden Ökonomen des 20. Jahrhunderts, bemerkte 1973: „Die Verwandlung der Frauen in eine heimliche Dienerklasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Diener für niedere Arbeiten konnte sich nur eine Minderheit der vorindustriellen Gesellschaft leisten; im Zuge der Demokratisierung steht heute fast dem gesamten männlichen Bevölkerungsteil eine Ehefrau als Dienerin zur Verfügung.“ Die Beschäftigung von Gesinde, das gegen Lohn die „niederen“ Arbeiten verrichtete, ging seit der Industrialisierung beständig zurück, stattdessen übernahmen im 19. Jahrhundert vermehrt die Ehefrauen alle Aufgaben rund um den Haushalt – unentgeltlich. Damit, so erklärt es die zur Geschichte der Hausfrau forschende Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes in einem Interview in der ZEIT, begann die Entwertung der Hausarbeit: „Als die Arbeit nicht mehr bezahlt wurde, wurde sie in einer Gesellschaft, in der stark nach Geld bewertet wird, auch nicht mehr als Arbeit anerkannt.“ Diese Wahrnehmung wirkt bis heute fort. Bleibt die Frau etwa für die Kinderbetreuung zu Hause, heißt es oft, sie arbeite gerade nicht, beobachtete die mit feministischen und gesellschaftspolitischen Themen befasste Journalistin Teresa Bücker für ihre Kolumne in der Süddeutschen Zeitung.

Mittlerweile setzt insofern eine Trendumkehr ein, als viele Frauen nicht mehr bereit sind, in dieser vermeintlich natürlichen Rollenverteilung mitzuspielen. Leider nicht mit der Konsequenz, dass die Aufgaben jetzt gleichmäßig auf alle Schultern verteilt werden; stattdessen beschäftigen über drei Millionen Haushalte in Deutschland eine – zumeist aber immer noch weibliche, jetzt allerdings überwiegend migrantische – Reinigungskraft. Noch mehr ordern Lebensmittel bei diversen Apps und heuern Babysitter an. Wie angenehm sich das denkt: Mit dem „Outsourcen“ dieser reproduktiven Arbeit wird sie wieder sichtbar und vergütet, indes sich die Frauen von ihrem Dienstmädchen-Dasein emanzipieren und „richtig“ arbeiten gehen. Abgesehen davon, dass es nur für Privilegierte erschwinglich ist, sich von derlei häuslichen Verpflichtungen freizukaufen, klappt selbst das nur auf Kosten der weniger Privilegierten: Nicht nur werden diese schlecht bezahlt (2019 wurden in Deutschland nur neun Prozent der Putzkräfte in Privathaushalten zu mehr als 15 Euro die Stunde beschäftigt), sie sind auch mehrheitlich nicht sozialversichert. Die Arbeitenden im Niedriglohnsektor wiederum müssen gezwungenermaßen neben zahllosen Überstunden zur Existenzsicherung ihren Haushalt selbst erledigen. Viel Zeit für Kinderbetreuung bleibt da nicht, was gleichsam die Verhältnisse perpetuiert. Während die Care-Arbeit, die alles vom Haushalt bis zur Fürsorge einschließt , also einerseits als Erwerbsarbeit unattraktiv ist, kann sie, wie Bücker hervorhebt, andererseits nicht von Familienmitgliedern übernommen werden, weil diese ebenfalls einer bezahlte Arbeit nachgehen müssen.

Während für einen kleinen Teil derjenigen, die Sorgearbeit leisten, zu Beginn der Corona-Pandemie wenigstens noch geklatscht wurde, haben die meisten weiterhin im Verborgenen ihren Dienst an der Gesellschaft getan. Sämtliche reproduktive Arbeit, selbst die unglamourösen Tätigkeiten wie Einkaufen, Aufräumen und Saubermachen, ist unverzichtbare Voraussetzung für ein funktionierendes Wirtschaftssystem. Torsten Lange und Gabrielle Schaad schreiben in einem Artikel zur räumlichen Dimension von Sorgearbeit: „Care-Arbeit ermöglicht nicht nur produktive Arbeit […], sondern sichert auch deren Erhalt. Gleichsam beruht die kapitalistische Wertschöpfung auf ihrer bedingungslosen Verfügbarkeit“ – und fordern ihre Vergesellschaftung.

planikum AG, Brahmshof, Zürich. Foto: Thomas Haug

Wie das vor allem in stadtplanerischer Hinsicht funktionieren kann, zeigt das neue Buch von Barbara Zibell, emeritierter Professorin für Planungs- und Architektursoziologie: „Care-Arbeit räumlich denken. Feministische Perspektiven auf Planung und Entwicklung“ ist März 2022 im eFeF-Verlag erschienen. Es schildert und historisiert zunächst die Ausgangslage – die funktionelle und damit zugleich autogerechte Stadt, die 1933 in der Charta von Athen als Leitbild manifestiert wurde. Die getrennten Sphären, in denen Wohnen, Arbeit und Erholung stattfinden sollten, wurden durch den motorisierten Verkehr verbunden. Es sei dies ein Spiegel der männlichen Lebenswirklichkeit des Ernährers, der morgens mit dem Auto ins zumeist zentrumsnahe Büro und abends zurück nach Hause fährt. Dabei unberücksichtigt bleibe „nahezu alles, was der Haus- und Versorgungsarbeit zuzurechnen ist“ (S. 40), also etwa das abweichende Mobilitätsverhalten der Versorgenden (meistens Frauen), das sich überwiegend aus zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegten „Wegeketten“ zusammensetzt: Die Kinder zur Schule bringen, Einkäufe und weitere „Besorgungen“ erledigen, eventuell Angehörige pflegen, die Kinder von der Schule abholen… Es ist stärker „auf gute Vernetzung und kurze Wege respektive optimale Verkehrsverbindungen angewiesen“ (S. 48).

MVRDV, niederländischer Pavillon zur EXPO 2000, Hannover. Foto: MVRDV

Die feministische Kritik, die das Buch im Folgenden rekapituliert, zielte historisch vor allem auf die Sichtbarmachung, Akzentuierung und gerechte Verteilung des versorgenden Alltags. Auf ihrer Grundlage entwirft Zibell schließlich ihre Zukunftsvision, die grundlegend unsere Art zu leben in Frage stellt. So wird einerseits eine Stadtplanung formuliert, die Care-Arbeit in den Mittelpunkt rückt, was unter anderem die Abkehr von der funktionellen und eine Hinwendung zur produktiven 15-Minuten-Stadt bedeutet: Die Schaffung gemischter Strukturen begünstigt kurze Wege, erleichtert die Vereinbarkeit von Sorge- und Erwerbsarbeit und fördert nicht zuletzt die Belebung und soziale Kontrolle im Straßenraum, die das Sicherheitsgefühl maßgeblich steigern. Eva Kail, die als Stadtplanerin in Wien seit vielen Jahren das gendergerechte Bauen vorantreibt, bewies durch ihre Projekte vielfach, wie eine Berücksichtigung der weiblichen Lebenswirklichkeit letztlich einer Gleichverteilung von Ressourcen und Einfluss über verschiedene soziale Gruppen hinweg Vorschub leistet, weil insbesondere auch ältere und eingeschränkte Menschen von den Konzepten profitieren. Genderplanning zementiert entsprechend nicht traditionelle Geschlechterrollen. Kail betont im Guardian, dass Architektur nur die unbezahlte Arbeit unterstützen kann, nicht aber, wer sie übernimmt: Man würde sich wünschen, zur Hälfte Männer zu entlasten, aber statistisch liege Care-Arbeit eben immer noch zu großen Teilen in den Händen der Frauen.

Auf der anderen Seite, jenseits von stadtplanerischen Möglichkeiten, zeigt Zibell in ihrer Utopie einen Weg aus dem anfangs skizzierten Dilemma – der Konkurrenz zwischen Erwerbsarbeit und versorgender Tätigkeit – auf. Den sorgenden Alltag zum Maß aller Dinge zu machen, heißt nämlich auch, die Erwerbsarbeit zu reduzieren und aufs Nötigste zu begrenzen. Wollen wir innerhalb der planetaren Grenzen nachhaltig und sozialverträglich wirtschaften, bedarf es ohnehin einer abnehmenden Produktion. Es wird repariert statt neu geschaffen, selbst gemacht statt industriell gefertigt, siedlungsnah angebaut statt in Monokulturen gezüchtet. Klimaschutz geht nur auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit? Von wegen!
Theresa Jeroch

Barbara Zibell: Care-Arbeit räumlich denken. Feministische Perspektiven auf Planung und Entwicklung, ca. 200 Seiten, CHF 29.00, eFeF-Verlag, Wettingen 2022, ISBN 978-3-906199-25-2

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