Günter Pfeifer

Wohnen im Klimawandel

Typus, Topos, Tektonik

Menschen waren immer eingebunden in eine Wechselwirkung von sozialer, kultureller und religiöser Umgebung. Ausschlaggebend für die Behausung waren das Klima und die Nutzung natürlicher Ressourcen, die man vor Ort oder in der nächsten Umgebung vorfand. Daraus entstand autochthone Architektur, die über hunderte Jahre Ausdruck der eigenen kulturellen Identität war. Mit dem Verlassen der natürlichen Evaluationsschritte der Architektur (seit dem 19. Jahrhundert) geriet der spezifische Typus in die Krise. Jeder weitere Entwicklungsschritt wurde mit der jeweils neuesten Technik vorgenommen. Es entstanden Gebäude, deren Architektur sich mehr und mehr über die Gebäudetechnik artikulierte: Entweder wurden Bauten mit zu vielen oder zu wenigen Fenstern entwickelt. Die technische Gebäudeausrüstung löste alle Probleme (künstliche Klimatisierung). Eines Tages bemerkte man, dass dies alles nicht nur unsere natürlichen Ressourcen vernichtet, sondern auch das Klima schlechter wurde und dies zudem eine Menge Geld kostet.

Dieses weltweit verbreitete Phänomen machte den Typus, der sich immer aus Topos und Tektonik zusammensetzte, obsolet – und auch die kulturelle Identität der Länder und Klimazonen wurde zu Grabe getragen. Der global ähnliche Typus, ausgerüstet mit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung des jeweiligen Landes, wird nun unabhängig von klimatischen Einflüssen propagiert: Dreizimmerwohnungen in Betonbauweise mit Klimaanlagen in Teheran, Neu-Delhi, Tokio oder New York sehen typologisch kaum anders aus als auf dem Land in Bali, Andalusien oder Australien.

Fokussieren wir diese Entwicklung auf den mitteleuropäischen Raum, stellt sich die Frage, ob die vielen neuen Anforderungen, resultierend aus der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung – generationen-übergreifendes, barrierefreies und altengerechtes Wohnen, Loftwohnen, Mikrowohnen, Plusenergiehaus, smart house, Wohnformen der neuen Gesellschaft wie nutzungsneutrales Wohnen, Wohnen für Geflüchtete, Wohnen für Migrationskulturen, Wohnen für den demografischen Wandel – die inhaltliche Trias von Topos, Typos, Tektonik in Frage stellen.

Das Thema der Typologie wird ergänzt durch die Frage nach einer klimagerechten Architektur, die unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ in Bezug zur Gebäude- und Fassadentechnologie spezifischer als bisher beantwortet werden muss. Oder anders herum: Wodurch oder womit soll alles ersetzt werden und was ist der eigentliche Mehrwert? Daran schließt sich die Frage nach den Konsequenzen im Städtebau an. Sind die alten Muster städtebaulicher Ordnungsprinzipien noch gültig? Taugen die bekannten Parameter funktioneller, verkehrstechnischer, infrastruktureller, stadttechnischer Art noch? Müsste es nicht längst heißen: in dubio pro caelum – im Zweifel für das Klima? Und welche Folgen auf unsere – entwerferischen und städtebaulichen – Gewohnheiten und / oder Gesetzgebungen hätte dies?

Prof. Dipl.-Ing. Günter Pfeifer (*1943) ist freier Architekt BDA in Freiburg. Bis zu seiner Emeritierung im Sommer 2012 hatte er an der TU Darmstadt den Lehrstuhl für Entwerfen und Wohnungsbau inne. Seit Sommer 2011 betreibt Günter Pfeifer mit Prof. Dr. Annette Rudolph-Cleff die Fondation Kybernetik – ein Praxislabor der TU Darmstadt und Pool für Nachhaltigkeitsforschung. Günter Pfeifer ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift.

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Foto: David Kasparek

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