editorial

zwei sorten angst

Wenn Menschen in diesem Land Angst bekommen, weil zwischen ein und zwei Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, ist das eine Sache. Wenn sie Angst bekommen, weil in Paris über 130 Menschen wahllos erschossen oder gesprengt werden, ist das eine andere. Beide „Sorten“ Angst, die irrationale und die begründete, gibt es. Sie beeinflussen sich wechselseitig und damit unser Zusammenleben.

Die Angst, die sich bei manchen mit der Ankunft des Flüchtlingsstroms einstellt, ist eine, die die Ethnologie, die Psychologie und die Kulturwissenschaften als die „Angst vor dem Anderen“ bezeichnen. Das Phänomen ist hinreichend unter allen möglichen Aspekten untersucht und aufgeschlüsselt worden; so sehr, dass man regelrecht von einer Wissenschaft des „Anderen“ sprechen könnte, die letztlich nach Gründen und Hintergründen für Befremdnis, für Vorurteile und für das Gefühl einer nicht genau definierbaren Bedrohung des gewohnten Lebens sucht. Natürlich entspringt es atavistischen Prägungen, für die keiner etwas kann, wenn Fremde abgelehnt, ausgegrenzt und isoliert werden; natürlich haben wir Verständnis für die Ängste, die infolge der vermeintlichen Bedrohung des Lebensraums, durch die anscheinend nahe Überfremdung, durch die unbekannten und unverständlichen Sprachen, ja durch das ungewohnte Aussehen der „Anderen“ an den Urmenschen in uns rühren.

Haben wir Verständnis? Nein, haben wir nicht, oder nur sehr bedingt. Denn diese Form der Angst vor dem „Anderen“ ist so irrational, dass man sie mit den bewährten Mitteln der Information und Kommunikation schnell vergessen machen könnte. Dass solche Gefühle auch in Aggression umschlagen, lässt sich verhaltenstheoretisch zwar erklären, ist aber nicht hinnehmbar: Unsere Gesellschaften, die jetzt Ziel globaler Migration werden, haben nicht von ungefähr eine Entwicklung mitgemacht, die von der Reformation bis zur Revolution eine kontinuierliche Bewusstwerdung der politischen und philosophischen Bedeutung des Individuums und seines Ichs erlebt haben. Sie haben nicht durch Zufall eine Epoche der Aufklärung erlebt, die sich gleichermaßen vom gemeinsamen Ursprung des Menschen wie auch von der Einzigartigkeit des Einzelnen überzeugen konnte. Sie haben nicht ohne Widerhall Kriege erlitten, in denen das Sterben in einer nie gekannten Größe industrialisiert wurde.

Der hohe Respekt vor dem Leben des Einzelnen, die Erkenntnis, dass jedes Menschenleben wertvoll ist, hat nicht nur zu einer hohen Sensibilität in hohen intellektuellen Kreisen geführt, sondern ist prinzipiell als Folge kollektiver Erinnerung unserer Gesellschaft einbeschrieben. Die historische Erfahrung sollte jeden in diesem Land äußerst eindeutig stimmen, wenn über das Leben anderer zu entscheiden ist. Und keine historische Erfahrung spricht dafür, dass die Rückkehr zu tribalem Verhalten jemals eine komplexe politische Situation gelöst hätte.

Die Angst vor Anschlägen hat einen anderen, realen Grund. Bislang haben wir die Nachrichten von Terror und Selbstmordattentaten in aller Welt als Manifestation einer bitteren, aber weit entfernten Wahrheit im Unterbewusstsein abgelegt. Aber jetzt, wie schon damals bei der Attacke auf „Charlie Hebdo“ ist es Paris, es war Madrid, es könnte Brüssel sein, es hätte Hannover sein können, wo die fernen Bedrohungsszenarien aus Israel, aus dem Irak, aus Afghanistan plötzlich ebenso Teil des täglichen Lebens werden. Deswegen hat viele schlagartig die Erkenntnis eingeholt, dass wir tatsächlich in der Globalisierung angekommen sind: Die weit entfernte Wahrheit, die wir als unbegreiflichen Teil einer unbegreiflichen Welt verdrängen konnten, scheint in die Räume der europäischen Stadt eingesickert zu sein.

Das eigentlich Bedrohliche gerade dabei ist, dass die globale Gefahr des IS in seinem regionalen Potential liegt. Die Gruppen, die sich in den europäischen Ländern zusammengefunden haben, können offenbar an vielen Stellen Europas mit „Zellen“ kooperieren, die genauso gnadenlos, zudem aber auch noch unberechenbar sind. Der langanhaltende Ausnahmezustand Brüssels zeigt, was diese Organisationsform vermag. Es kann überall und jederzeit passieren.

Die tiefgreifende Verunsicherung der westeuropäischen Bevölkerung könnte das – gewollte oder unbeabsichtigte – Ergebnis dieses Terrors sein. Die hiesigen Gesellschaften erleben zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar in größerem Umfang, wie es ist, wenn der Wert eines menschlichen Lebens nicht unter den moralischen und ethischen Voraussetzungen der entwickelten Aufklärung betrachtet wird. Und sie erleben, wie es sich anfühlt, wenn die öffentlichen Räume, die vielleicht eine der größten Errungenschaften ihrer Kultur sind, nicht mehr in gewohnter Weise ihren Zweck erfüllen, sondern im Gegenteil zu Orten der Lebensgefährdung werden. Er ist der Ort, an dem seit der Antike gesellschaftliche Interessen ausgehandelt worden sind, an dem sich Reiche und Arme, Einheimische und Fremde begegnen. Ob das in Zukunft noch so sein wird, hängt von der weiteren Entwicklung ab: Paris hat gezeigt, dass der öffentliche Raum ein kostbares, aber auch ein verletzliches Gut ist. Die Franzosen sind der Bedrohung mit Trotz entgegengetreten. Wie „resilient“ unsere alten Gesellschaften gegen die neue Form der Gewalt in ihren Städten sind, ist noch nicht abzusehen. Polizei- und Militärpräsenz, Versammlungsverbote, Zugangssperren und vor allem das Misstrauen der Bürger gegenüber anderen schränken die Funktion des Öffentlichen ein. Und viele Menschen werden eine Einschränkung ihrer „öffentlichen“ Freiheiten ohne weiteres akzeptieren, wenn sie ihr Leben in Gefahr sehen. Das wird umso mehr der Fall sein, wenn es weitere Anschläge gibt.

Nur die Angst kann den öffentlichen Raum der Stadt aushöhlen. Das muss uns bewusst sein, und deshalb sollten wir sorgfältig unterscheiden, wovor wir Angst haben müssen und wovor nicht.

Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

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