Buch der Woche: Zum Raum

Zwischen Stadt und Landschaft

Als Paul Schultze-Naumburg 1916/1917 den 7., 8. und 9. Band seiner „Kulturarbeiten“ veröffentlichte, war die Werkgruppe mit dem Titel „Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen“ etwas Besonderes: Zum ersten Mal erschien hier eine aus kulturtheoretischem Blickwinkel verfasste Bestandsaufnahme der Symptome der Aneignung der Erdoberfläche durch den Menschen. Schultze-Naumburgs Vorhaben war indes auch prospektiv: Er wollte die Lemmata seines enzyklopädischen Werkes, die vom „Einzelbaum“ über die „Stadterscheinung“ bis zur „Gipfelbebauung“ reichen, gleichzeitig als Sensibilisierung für die Belange der Landschaft und als Handlungsanweisung für den „richtigen“ Umgang mit ihren Eigenheiten verstanden wissen. Was ihm dabei gelang, war eine bis heute kaum übertroffene Theorie der Landschaft, die gleichzeitig Naturschönheit und menschliche Intervention als ästhetische Einheit fasste.

In ganz ähnlicher Weise argumentiert auch die „Enzyklopädie zum gestalteten Raum“, die Vittorio Magnago Lampugnani, Konstanze Sylvia Domhardt und Rainer Schützeichel soeben zusammengestellt haben. Die Herausgeber haben den „durch bewusste menschliche Einflussnahme gestalteten Raum“ in räumlich wirksame Elemente zerlegt, an deren Beispiel einerseits spezifische Gestaltungsprozesse sichtbar werden, andererseits ihr Zusammenhang untereinander erkennbar wird. In 38 Stichworten erläutern Aufsätze von 33 Autoren Begriffe wie „Autobahn“, „Feld“, „Industrielandschaft“, „Meer“, „Stadthaus“, „Wald“ und „Weg“.

Dazu gehört bei den meisten Aufsätzen von Autoren wie Richard Ingersoll, Christophe Girot, Axel Föhl, Wolfgang Sonne, Simone Hain und Bettina Köhler ein profunder historischer Rückblick auf die Genese der jeweiligen Objektgruppe, der die Bedingungen der Topographie, des Klimas, der kultur- und mentalitätsgeschichtliche und demographische Kontexte miteinbezieht. Natürlich referieren die Beiträge zumindest summarisch auch die gegenwärtige Situation und schätzen ihre Bedeutung der jeweiligen Typologie für die heutige Lebensumwelt ein. Meist steht am Ende eine knappe Handlungsanweisung für den zweckdienlichen Umgang mit dem jeweiligen Phänotypus in unseren Tagen und in Zukunft.

Die Lektüre des Buches ist deshalb besonders empfohlen, weil die Beiträge in fast allen Fällen neben den ästhetischen und zeichenhaften Aspekten von „Bürgersteig“, „Einfriedung“, „Garten“, „Vorortsiedlung“ und dergleichen auch die dazugehörigen, im Hintergrund wirksamen Ideologien aufdecken, die ihre Gestaltung  geprägt haben. Neben den durchweg lesenswerten Texten bringt die schöne und originelle Bebilderung die „Enzyklopädie“ ihrem Ziel einen großen Schritt näher, nicht nur das Fachpublikum, sondern auch dem interessierten Laien das Verständnis von kulturräumlichen Gestaltungsprozessen zu eröffnen.

Andreas Denk

Vittorio Magnago Lampugnani, Konstanze Sylva Domhardt und Rainer Schützeichel (Hrsg.): Enzyklopädie des gestalteten Raums. Von der Landschaft bis zur Stadt, 510 S., zahlr. Abb., 98,– Euro, gta Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-85676-325-1

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