der erste stein: andreas denk

Learning from Africa: Zu einer Theorie des konsekutiven Städtebaus

Der erste Stein kann gelegt oder geworfen werden. Unter dieser Rubrik erscheinen Beiträge, die beides vermögen: Es sind theoretische Texte von Autoren mit Thesen zur architektonischen Praxis, die kontrovers diskutierbar sind. Andreas Denk bringt den Stein ins Rollen: Diskutieren Sie mit!

Ein Städtebau, der besser sein soll als der heutige, bedarf einer neuen theoretischen Fundierung. Eine erste Maßgabe müsste eine Intensivierung des Gefühls der Bürger sein, dass sie tatsächlich an den Entwicklungsprozessen ihrer Straße, ihres Quartiers, ihrer Stadt Anteil haben. Dabei geht es nicht darum, dass die Stadt von allen gestaltet wird. Dafür gibt es Spezialisten, die in der Lage sind, Ideen aufzugreifen und formal zu übersetzen. Aber erst die Überzeugung des Einzelnen, dass er an einem Prozess beteiligt war, dass der Prozess im Sinne aller geführt wird und das sein Ergebnis eine Übereinkunft vieler über die Lösung gewesen ist, kann mehr Akzeptanz für hoheitliches Handeln erzeugen.

Der zweite Schritt muss eine Alternative sein zu den großflächigen Stadtentwicklungsmaßnahmen, die mit einheitlichen Masterplänen zwar versuchen, Wildwuchs zu verhindern und einheitliche Stadtbilder zu erzeugen, aber dabei nur investorenorientierte geschlossene Siedlungen hervorbringen, die wie gated communities von homogenen Gruppen der Gesellschaft bewohnt und frequentiert werden. Nur die soziale Mischung kann die „Stadt“ entstehen lassen, wie wir sie im Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Räumen als Ausdruck der Verfasstheit des Gemeinwesens verstehen. Nur das Aushandeln des Miteinanders verschiedener Ethnien, Altersgruppen und sozialer Stufen kann eine Stadt entstehen lassen, die ihrer funktionalen und symbolischen Funktion als Ausdruck der Gesellschaft gerecht wird. Neue und bestehende Teile der Stadt müssen so entwickelt werden, dass Verdrängungsmechanismen vermieden werden ebenso wie eine Segregation der Stadt in Innen und Außen, Reiche und Arme.

Der Verwertungsdruck, der insbesondere auf Grundstücken in kernnahen Lagen lastet, geht nicht nur einher mit dem Lockruf einer möglichst hohen Bodenrendite, sondern auch mit der Gier, diese Rendite möglichst schnell erwirtschaften zu können. Deshalb unterliegen auch größere Verfahren meist nicht nur dem Zwang, Grund und Boden möglichst wirtschaftlich auszulasten, sondern auch möglichst schnell.

Zeit ist also auch im Städtebau ein wertvolles Gut. Um aus den vordergründigen Vermarktungsinteressen des städtischen Bodens heraus zu kommen, bedarf es einer Ausweitung der bisher gebräuchlichen Qualitätsparameter. Neben räumlichen, sozialen oder ökonomischen Aspekten muss der Faktor Zeit als Qualitätsgarant für eine gelingende Planung eingesetzt werden. Dazu bedarf es eines Mentalitätswandels, den man allen Akteuren im städtebaulichen Prozess abverlangen kann: Unter der Devise „Learning from Africa“ ließe sich vielleicht ein anderes Verhältnis zur Zeit entwickeln, das sich an der afrikanischen Haltung zu Tätigkeiten, Prozessen und Ritualen orientiert. Weniger wichtige Dinge gehen schneller, wichtige Dinge brauchen ihre Zeit. Die Gewährung von Zeit ist immer auch eine Wertschätzung des Vorgangs, der Tätigkeit oder der Personen, auf die sich die Tätigkeit richtet. Einem Prozess in der Stadt Zeit zu geben, heißt: dem Vorhaben die Bedeutung zu geben, die es verdient; den Dingen, um die es geht, Zeit zu geben, sich ihnen gemäß zu entwickeln (oder entwickelt zu werden); den Menschen, die der Vorgang betrifft, Wertschätzung zukommen zu lassen, um sich mit der Planung beschäftigen zu können, sich ein Urteil zu bilden und dieses zu Gehör bringen zu können und sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Ein solches immaterielles Investment – die „Entdeckung der Langsamkeit“ im Städtebau – hat für die neue Strategie zweierlei Auswirkungen. Zunächst kann und soll die Kommune Quartiere aussuchen, die unter einem besonders heftigen Entwicklungs- oder Veränderungsdruck stehen. Ab dem Zeitpunkt der Auswahl stehen Quartiere unter einem anderen Zeitgebot: In ihnen herrscht African Time, eine Art Zeitlupe oder Moratorium, in der die Veränderung des Quartiers verlangsamt wird. Alle Planungen im Quartier müssen sich der African Time unterwerfen, die langsam, aber stetig verläuft und keine Sprünge im Tempo der Entwicklung kennt. Große Planungen verlangen mehr Zeit und vielleicht mehrere Stufen der Entwicklung, weil sie viele und komplexe Begleitumstände haben, die zu erwägen sind. Aber auch kleine Projekte brauchen „ihre“ Zeit, weil sie sich in einem gegebenen Rahmen bewähren müssen, um die ökologisch und ökonomisch notwendige Langlebigkeit zu bekommen.

Incremental City
Die Auswahl der African-Time-Quartiere bedingt auch den planerischen Umgang damit. Als Beispiel für die Entwicklung der Viertel oder ihrer Teile dient das sogenannte Incremental Housing, die schrittweise Erstellung von Wohnhäusern für den Grundbedarf materiell schwach situierter Menschen, die dem Bedarf angepasst und je nach Vermögen in Eigenarbeit weiter ausgebaut werden können.(1) Vorbildlich ist die Variabilität der Planung des Incremental Housings, das aus einem vorgegebenen neutralen Zustand immer neue Interpretationen entwickelt. Aus dem Ausbau einer vorhandenen Struktur entwickelt sich ein weiterer Ausbau. Aus dem Konglomerat zweier Ausbauphasen entsteht eine dritte und so fort, so dass schließlich ein hochkomplexes Gebilde aus aufeinander bezogener Bauteile entsteht.

Für die Theorie heißt das: In den African-Time-Gebieten sollen die Gebäude und Einrichtungen der Stadt konsekutiv entstehen. Statt eines bindenden Bebauungs- oder Masterplans werden bestimmte Planungsparameter bestimmt, die infrastrukturelle, räumliche, architektonische, soziale und ökonomische Festlegungen beinhalten. Diese Rahmenbedingungen werden so formuliert, dass sie nicht Maßnahmen, sondern Milieus beschreiben. So entsteht eine Langzeitplanung mit veränderlichem Rahmenplan, bei der alle Gebäude aus der Auseinandersetzung mit einer immer neuen Situation entstehen. Unter der Maßgabe der Milieubeschreibungen werden nämlich zunächst nur wenige Gebäude entworfen. Sind sie fertiggestellt, entscheidet ein Expertenrat über die weitere Entwicklung des Quartiers. Gegebenenfalls korrigiert er die Rahmenbedingungen der Milieubeschreibung. Alle Bedingungen sind variabel: Städtische und private Raumbildungen, die Wertigkeit und die Gestaltung der öffentlichen Räume und der Architektur, sogar die Funktionen einzelner Gebäude oder des Quartiers und seiner Teile können überdacht und neu definiert werden. Der Expertenrat kann im Kern aus einem Kreis von Architekten, Landschaftsarchitekten und Stadtplanern, Anwohnern und sachkundigen Bürgern, Gesellschaftswissenschaftlern wie Soziologen und Historikern bestehen. Entscheidend für die Wirkung des Rates ist seine interdisziplinäre Zusammensetzung: sie ist eine Garantie dafür, dass nicht nur formale Beurteilungskriterien angewandt werden.

Der Rat begleitet die auf mehrere, mitunter viele Jahre gestreckte Bebauung eines städtischen Areals. Der Rat des Rats ist verbindlich und wird zur Grundlage des jeweils nächsten Entwurfs im Quartier. Der Rat diskutiert und legt fest, wann die sozialen, ökonomischen, ökologischen, räumlichen und gestalterischen Folgen eines Projekts soweit erkennbar sind, dass mit der Planung des nächsten Vorhabens angefangen werden kann. Gebaut werden kann nur, wenn die Finanzierung des Bauwerks gesichert ist. Andersherum diktiert nicht die Verfügbarkeit von Kapital die Auswahl, den Beginn, die Qualität eines Projekts. Der Rat stellt sicher, dass das jeweils aktuelle Vorhaben den Maßgaben der aktuellen Milieubeschreibung folgt. Er entscheidet schließlich auch, wann die Gesamtplanung abgeschlossen ist.

Konsekutiver Städtebau
Doch dieser institutionelle Rahmen dient nur der Organisation der Qualität. Das African-Time-Moratorium ermöglicht ein kontinuierliches, gewissermaßen eigengesetzliches Bauen im Bestand. Die immer wieder verlangte Ausrichtung der Neubauten an den früher entstandenen Gebäuden stellt hohe Anforderungen an Architekten und Stadtplaner. Denn ihre Aufgabe ist schließlich die Gesamtreflexion des Quartiers und der Entwurf des Passenden oder – vielleicht auch – Unpassenden. Architektur als raumbildendes Prinzip muss hier alle Möglichkeiten ausnutzen: latente Bestätigung einer Situation, gezielte Kräftigung, harmonische Ergänzung, konstruktiver Widerspruch, gezieltes Desinteresse, bewusste Verweigerung. Die immer wieder spezifizierten Planungsparadigmen, die diese Vielfalt ermöglichen, führen wahrscheinlich zu einer hohen Qualität der Architektur und der öffentlichen Räume.

Nur so oder ähnlich, ist unsere Überzeugung, lässt sich ein Prozess der Aushandlung privater und allgemeiner Interessen in einer polykulturellen und polyethnischen Gesellschaft dauerhaft gewährleisten. Neben der sozialen Mischung, die ebenfalls durch das vorgeschlagene monitorierte konsekutive Verfahren gesichert wird, gewährleistet das African-Time-Prinzip den Bewohnern eines Stadtteils eine langsame Geschwindigkeit der Veränderung der Stadt. Zusammen mit entsprechenden Beteiligungsverfahren, für die sich die Charette als weitreichendste und basisnächste Form bewährt hat, wird diese Entdeckung der Langsamkeit im Städtebau, die erst den konsekutiven Städtebau ermöglicht, zur Zufriedenheit der Bürger und vielleicht sogar zu einer Steigerung ihres Gefühls für Mitverantwortung führen. So könnte die Stadt zur Wohnung werden.

Andreas Denk

Anmerkung
1 Vgl. u.a.: http://web.mit.edu/incrementalhousing/ (letzter Abruf: 13. November 2013) sowie: http://incrementalcity.wordpress.com (Letzter Abruf: 12. November 2013).

Abb.: 1 Auswahl von African-Time-Gebieten in Köln, 2-3 Konsekutiver Städtebau am Beispiel des Kölner Heumarkts (Schema), alle Abb.: Daniel Hubert

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert