Buch der Woche: Mit dem Boden verbunden

Diggin’ in the Crates

Für die Entstehung von Hip-Hop war „Digging“ ein zentrales Motiv. Bis in die 1990er-Jahre stand Musik vor allem auf Tonträgern wie Schallplatten zur Verfügung. Die zumeist aus ökonomisch prekären Verhältnissen stammenden Musikerinnen und Musiker des Hip-Hop konnten sich weder neue Schallplatten leisten, noch für ihre Produktionen mit Live-Bands im Studio arbeiten – Musikstreaming und music– oder loop-libraries waren noch nicht erfunden. Also wurden Second-Hand-Plattenläden nach Soul-, Funk- und Disco-Scheiben durchstöbert, deren Instrumentals dann auf brauchbare Drums, Snares und Melodien hin abgesucht wurden, diese gesampelt und wiederum geloopt zu den neuen Beats ausgearbeitet, auf die schließlich gerappt und gesungen wurde. Der YouTube-Kanal Tracklib zeigt mit seiner Serie #samplebreakdown die ganze Kunst und Komplexität dieses Vorgehens. Das Suchen nach den Samples also war notwendige Voraussetzung für das Entstehen einer der wichtigsten Jugendkulturen der Welt. Das nerd-hafte Wühlen, das Graben in den Kisten der Plattenläden und Flohmarktstände war die Grundlage all dessen.

Ebenfalls recht nerdy ist das Wühlen von Bjarne Mastenbroek und Iwan Baan, die sich in die Architekturgeschichte eingegraben haben und einer rund zehnjährigen Recherche nun ein umfangreiches Kompendium haben folgen lassen. „Dig it!“ heißt das mehr als 1.300 Seiten umfassende Buch, das Baan und Mastenbroek im Kölner Taschen Verlag vorgelegt haben. In sechs Kapiteln widmen sie sich Architekturen, die auf unterschiedliche Art mit dem Boden verbunden sind.

Man mag berechtigterweise einwenden, dass mit wenigen Ausnahmen jede Architektur in irgendeiner Art mit dem Boden in Kontakt steht, Mastenbroek aber geht es um mehr. Der Architekt gründete 2002 das Architekturbüro SeArch, was sowohl für „Stedenbouw en Architectuur“, also Städtebau und Architektur steht, aber auch search wie Suche beinhaltet. Und er hat eine Fehlstelle ausgemacht: Bis in die 1960er Jahre hinein, so Mastenbroek, hat die Architektur sich stetig weiter vom Boden entfernt, der Ort und damit der Boden, auf dem ein Haus steht, wurde immer abstrakter, nachgerade egal für den Entwurf. Der Ort wurde zum passiven Fundament degradiert.

Biete Ghiorgis, Lalibela, Ethiopia, 1100–1200. Foto: Iwan Baan. Courtesy of TASCHEN.

Ausgehend von einem Blick in die Architekturgeschichte haben sich Baan und Mastenbroek auf die Suche nach Gebäuden gemacht, die eine Einheit mit dem Ort, mit dem Boden selbst eingehen. Die unumgänglichen Felsenkirchen von Lalibela in Äthiopien sind ebenso dabei wie verschiedene indische Stufenbrunnen, aber auch einige überraschende Beispiele deutlich jüngeren Datums. Jedes Projekt wird in schönen, holzschnittartigen, schwarz-weiß-Zeichnungen und eindrücklichen Fotos von Iwan Baan sowie einem kurzen Erläuterungsbericht dargestellt. Dabei gelingt es vor allem der Zeichnungsebene mit ihren Grundrissen, Schnitten und Isometrien – teilweise in Kombination – den Fotografien auf Augenhöhe zu begegnen und ein visuelles Gleichgewicht herzustellen.

Nach einer historischen Analyse samt Zeittafel ist die mauersteindicke Publikation in sechs Abschnitte gegliedert: Bury, Embed, Absorb, Spiral, Carve und Mimic: vergraben, einbetten, absorbieren, wendeln, aushöhlen und nachahmen. Jedem dieser Kapitel ist ein kurzer Essay vorangestellt, der die Einordnung in diese spezielle Systematik vornimmt. Es folgen dann unterschiedlich viele Architekturen, die die Autoren dem jeweiligen Thema zuordnen konnten. Mit Blick aufs Wendeln sind das beispielsweise mesopotamische Zikkurate (780), die Lingotto-Fabrik in Turin von Giacomo Matté-Trucco (1916–1923) oder das Roy and Diana Vagelos Education Center in New York von Diller Scofidio + Renfo (2013–2016).

Das Buch will weder eine erschöpfende Enzyklopädie noch ein abgeschlossener Atlas sein. Viel mehr möchte es seine Leserinnen und Leser mitnehmen „auf eine weltweite Reise, um die Schönheit und Vielfältigkeit unterschiedlicher Baukulturen zu zeigen“. Obwohl die Auswahl der Projekte – vor allem mit Blick auf die eigenen Bauten von SeArch – vor dem eingangs genannten Diktum der wirklichen Verbindung mit dem Ort nicht immer nachvollziehbar, mitunter sogar recht wahllos erscheint, gelingt genau das der Publikation: Es ist eine Einladung, in die Schatzkisten der Architekturgeschichte zu versinken und zeitvergessen in ihren Wundern zu wühlen. Ob daraus dann ein Sample und ein neuer Hit entstehen, bleibt offen, die Rohstoffe aber liegen in dieser Buch gewordenen Wühlkiste bereit.
David Kasparek

Bjarne Mastenbroek, SeArch, Iwan Baan: Dig it! Building Bound to the Ground, 1.390 Abb., zahlr. Pläne und Fotos, Hardcover, Englisch, 100,– Euro, Taschen, Köln 2021, ISBN: ISBN 978-3-8365-7817-2

 

 

 

 

 

Titelbild (groß): Chalet Anzère, Anzère, Schweiz, SeARCH, 2013–2015. Foto: Ossip van Duivenbode. Courtesy of TASCHEN.
Titelbilder (klein): Iwan Baan. Courtesy of TASCHEN.
l.: Kailasa Tempel, Ellora, Indien, 756–773.
m.: Friendship Centre, Gaibandha, Bangladesch, URBANA, 2011.
r.: Zeitz MOCAA, Kapstadt, Südafrika, Heatherwick Studio, 2014–2017.

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