editorial

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Die geographischen Koordinaten des Flüchtlingslagers Moria nahe Mytileni auf der griechischen Insel Lesbos geben nicht preis, dass dies der Ort ist, an dem die europäische – und damit die deutsche – Flüchtlingspolitik an einem Tiefpunkt angekommen ist. Das „Erstaufnahmelager“ bei Moria wurde 2014 eingerichtet. Im Zuge der Fluchtwelle 2015 wurde das Lager, das von der griechischen Polizei und der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR verwaltet wird, als „Hotspot“ für eine Belegung mit 2.800 Menschen erweitert. Schon damals gab es nicht ausreichend Unterkünfte für die Geflüchteten, auch ihre Versorgung mit Lebensmitteln und die hygie­nischen Verhältnisse waren mangelhaft. Im Oktober 2019 befanden sich 13.000 Menschen im Lager Moria, im März 2020 waren es bereits 20.000. Angesichts der elenden Verhältnisse im teilweise wild gewachsenen Lager wurden damals einige tausend Flüchtlinge auf das griechische Festland gebracht.

Die Notlage der Flüchtlinge auf Lesbos war bekannt. Noch im August 2020 besuchte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet das Lager. Die Tour wurde abgebrochen, nachdem Flüchtlinge Laschet versehentlich für den „Prime Minister of Germany“ gehalten und ihn „vehement um Hilfe gebeten“ hatten, wie die „Tagesschau“ berichtete. Laschet sprach seinerzeit von einem „Aufschrei der Verzweifelten“.

Als Anfang September wegen eines Corona-Ausbruchs einige Personen im Lager isoliert werden sollten, kam es zum wiederholten Male zu Auseinandersetzungen zwischen Geflüchteten und Personal. In der Folge zerstörte ein Großbrand fast das gesamte Lager. Für fast zwei Wochen hatten 13.000 Menschen kein Dach über dem Kopf und kaum eine geregelte Lebensmittelversorgung. Augenzeugen berichteten von umherirrenden Menschen ohne Wasser und Nahrung und von Tränengaseinsätzen der griechischen Polizei. Hilfsorganisationen wurden offenbar gezielt von der Polizei an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Erst dann entwickelte sich in Europa und der Welt ein öffentliches Bewusstsein für das Ausmaß der humanitären Katastrophe auf der griechischen Insel. Die Menschen im Lager auf Lesbos seien „schlechter behandelt worden, als bei uns das Vieh behandelt wird“, empörte sich Michael Brandt, der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Vielfach wurde die Erwartung geäußert, dass Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) im Rahmen der UN-Präsidentschaft Deutschlands schnell und entschieden tätig werden müssten.

Doch Seehofer ließen selbst die Handlungsaufforderungen von Parteifreunden kalt. Die Vorstöße mehrerer Bundesländer, die erklärt hatten, Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen, wies er mit dem Hinweis zurück, dass nur eine europäische Lösung das Problem der Flüchtlinge auf Lesbos beheben könne. Der Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, sah in Seehofers Argumentation nur ein „Ablenkungsmanöver“: „Wer hier von einer europäischen Lösung fabuliert, spielt auf Zeit und sucht ein Alibi für das Nichthandeln.“

Im Oktober 2020 sieht die Situation nicht hoffnungsvoller aus. Die deutsche Regierungskoalition hat sich darauf verständigt, insgesamt 1.553 Flüchtlinge aus Moria nach Deutschland zu holen. Und Anfang des Monats hat die EU den Entwurf zu einem „Migrationspakt“ vorgelegt, der mit absurden „Abschiebe-Patenschaften“ eher ein Anti-Flüchtlingspakt ist.

Moria ist zu einem Fallbeispiel geworden, wie das Wohlergehen, ja, das Schicksal von Tausenden von Menschen zum Spielball der Politik werden kann. Wenn sich der informative Nebel mitunter lüftet, wird erkennbar, dass die griechischen Behörden mit dem Lager auf Lesbos ein abschreckendes Beispiel inszeniert haben, das weitere Flüchtlinge vom Verlassen ihrer Heimat abhalten soll. Es wird auch deutlich, dass die EU – auch die Bundesrepublik – dieser Form von „Symbolpolitik“ wissentlich, abwartend und damit auch billigend über Jahre zugesehen haben. Selbst in der Phase, in der die Missstände des Lagers weltweit öffentlich wurden, hat sich kein Land der EU dazu entschließen können, durch einen entschiedenen Widerspruch oder einen humanitären Akt die Situation in Moria zu beheben. Wenn das politische Kalkül regiert, treten Menschenrechte, Asylrecht und der humanitäre Gedanke allzu schnell in den Hintergrund. Hinter der Furcht vor der Kritik der europäischen „Partner“, deren Wertesysteme Seehofer – teilweise wohl zu Recht – offenbar anders einschätzt als das eigene, steckt auch die Angst vor dem politischen Gegner im eigenen Land. Der bayrische Politiker hat das Erstarken der AfD nach der Flüchtlingswelle 2015 deutlich in Erinnerung. Und wenn es um den Erhalt der Macht geht, ist das „C“ im Namen seiner Partei offenbar genauso schnell vergessen wie das „S“.

Der Verzicht auf den Gehalt dieser Werte aus realpolitischem Kalkül, sei es nun „das Soziale“ oder „das Christliche“ oder, sagen wir: „das Humane“, dürfte viele Bürger, die sich für mündig halten, mehr als befremden. Ist das die politische Ethik, die wir von einem Land erwarten, dessen Politik wir – nach innen wie nach außen – nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und der menschenverachtenden Ideologie des „Dritten Reichs“ humanistisch aufgestellt wissen wollen? Über 20 Städte haben in einem Schreiben an die Kanzlerin ihre Bereitschaft erklärt, Geflüchtete aufzunehmen. Über 80 Prozent der Bundesbürger halten es nach Umfragen für richtig, Moria-Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. „Wir haben Platz“, hieß es in unzähligen Solidaritätsbekundungen und Protestaktionen im September. Hätte es diese Parallelaktionen zum rhetorischen Ballyhoo der politisch Verantwortlichen nicht gegeben, könnte man sich wahrlich fremd im eigenen Land fühlen.
Andreas Denk

Dieser Text ist erschienen in der architekt 5/20 „das blaue wunder. vom wert und preis des wassers“.

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