Sophia Ungers im Gespräch mit Andreas Denk

Ein Haus für Bücher

Sophia Ungers studierte Kunstgeschichte an der Cornell University in Ithaca, USA. Von 1989 bis 1998 führte sie mit „Galerie Sophia Ungers“ eine eigene Galerie für zeitgenössische Kunst in Köln. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes arbeitete sie im Büro ihrer Eltern Liselotte und Oswald Mathias Ungers mit, wo sie nach dem Tod der Eltern das Ungers Archiv für Architekturwissenschaft (UAA) mit aufbaute und seitdem in der Leitung tätig ist.
Prof i.V. Andreas Denk (*1959) ist Architekturhistoriker und Chefredakteur dieser Zeitschrift. Er lehrt Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, lebt und arbeitet in Bonn und Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge, Moderationen und Veranstaltungskonzepte.

Andreas Denk: Eine Sammlung findet meistens mit einem Stück ihren Anfang. Wo liegen die Ursprünge der Bibliothek, die Ihre Eltern im Laufe ihres Lebens aufgebaut haben?
Sophia Ungers: Meine Eltern, mein Vater wie meine Mutter, haben in den späten 1950er Jahren angefangen, Bücher zu sammeln. Meine Mutter war dabei eine treibende Kraft, denn sie war sehr literaturinteressiert. Damals haben sich meine Eltern beispielsweise gegenseitig eine von Chagall bebilderte Bibel zu Weihnachten geschenkt – das war der Anfang der Sammlung, die sich dann allmählich ergab.

Wie erklärt sich der Zusammenhang zwischen dem Architekten und dem Bücherfreund Oswald Mathias Ungers?
Mein Vater fand insbesondere Zugang zu theoretischen Schriften, nachdem 1959 der damals als Architekturkritiker sehr aktive Reyner Banham ihn in einem Aufsatz im Zusammenhang mit dem Bau seines Hauses in Müngersdorf als „Expressionisten“ bezeichnet hatte. Das fand er spannend und er wollte wissen, was der Kontext dieser Einordnung seiner Arbeit war. Damals begann er sich zunächst mit expressionistischen Büchern zu beschäftigen. Seine Studien brachten ihm zumindest Klarheit darüber, dass er mit dem Expressionismus nichts zu tun hatte – und Banhams Kategorisierung nicht auf ihn zutraf. Ich glaube, dass aus diesem Moment heraus die Erkenntnis kam, Bücher zu erwerben, um sich auch als Architekt weiter zu entwickeln. Er hatte eben nicht das Glück, als junger Mensch immer von solchen intellektuellen Gedanken umgeben gewesen zu sein. Er kam ja aus einer einfachen Familie und musste sich alles erst aneignen.

Seine Ausbildung bei Egon Eiermann in Karlsruhe verlief wahrscheinlich linear modern – ohne Geschichte und ohne Theorie…
Ja, da war Architekturgeschichte kein Thema. Das Interesse von OMU resultiert wahrscheinlich aus seinem Aufenthalt in Maria Laach unmittelbar nach dem Krieg. Dorthin hatte er sich ein Jahr zurückgezogen. Beeindruckt von der romanischen Architektur der Klosterkirche und in Gesprächen mit einem Pater kam ihm wohl auch der Gedanke, Architekt zu werden.

Im Laufe von 50 Jahren Sammeltätigkeit ist die Ungers’sche Bibliothek zu einer der größten Privatsammlungen geworden. Höchstens der Schweizer Architekturhistoriker Werner Oechslin hat noch mehr Werke zur Architektur und Architekturtheorie zusammengetragen. Was glauben Sie, wie viele der Werke Oswald Mathias Ungers und Liselotte Ungers gelesen haben?
Meine Eltern haben im Laufe der Zeit etwa 12.000 Bücher zusammengetragen. Natürlich haben sie nicht jeden einzelnen Titel gelesen. Aber wie alle bibliophilen Menschen hätten sie gesagt: Man muss nicht alles lesen. Man muss nur wissen, wo man suchen muss. Manche Bücher hingegen hat mein Vater sehr regelmäßig für Vorträge und für seine Entwürfe genutzt. Meine Mutter hat noch mit Ende 70 die Bibliothek für ihr Buch „Über Architekten“ intensiv benutzt.

Wissen Sie, welche Werke seiner Sammlung ihn besonders interessiert haben?
Am häufigsten vertreten sind sicherlich die unterschiedlichen Vitruv-Traktate. Überhaupt haben ihn alle „Klassiker“ wie Leonbattista Alberti, Serlio, Ledoux oder der Abbé Laugier interessiert. Eine besondere Leidenschaft galt seiner Sammlung von teilweise sehr seltenen Lehrbüchern zur Perspektive. Zu Lebzeiten hat er sich immer gewünscht, dass dieses Konvolut aus ganz unterschiedlichen Epochen einmal zusammenhängend bearbeitet würde. Das hat sich bis heute aber noch nicht ergeben.

Nach welchen Kriterien haben Ihre Eltern gesammelt?
Das kann ich gar nicht so genau sagen. Es war wohl wirklich die Leidenschaft für wichtige Bücher zur Architektur und zur Theorie, die Begeisterung für das, was er in der Architektur, in der Geschichte der Entwicklung der Architektur relevant fand. Ihn hat eine Vollständigkeit der Architekturgeschichte interessiert. Ungers hat bei weitem nicht alle Bücher in die Bibliothek aufgenommen. Gerade die neuzeitlichen Coffee-Table-Books sind eigentlich nicht vertreten. Ihm war es ab einem gewissen Zeitpunkt sehr bewusst, dass er eine Bibliothek aufbaut. Schon 1990 haben meine Eltern die Stiftung „Ungers Archiv für Architekturwissenschaft“gegründet, die wir jetzt betreuen. Zugleich hat er damals eine Bibliothekarin eingestellt, um die Bücher zu sortieren und Doubletten auszusortieren.

In manchen Momenten, an einigen Entwürfen, wird man die Wirkung von Alberti oder Boullée auf das architektonische Werk von Oswald Mathias Ungers sicherlich sehr deutlich sehen können, bei anderen Entwürfen lassen sich solche Bezüge nur ahnen. Glauben Sie, dass man jemals der Wechselwirkung zwischen Lektüre und Architekturentwurf bei Ihrem Vater auf die Spur kommen kann?
Die „Anschaffungspolitik“ meines Vaters hat sicherlich auch mit seinen Entwürfen und den jeweiligen Interessen des Entwerfers zu tun. Diese Zusammenhänge sind auch für uns oft nicht mehr nachvollziehbar, weil wir für die frühe Phase der Sammlung nicht wissen, wann welches Buch angeschafft worden ist. Erst ab 1990 wurde festgehalten, welche Bücher gekauft worden sind. Da war aber schon das Gros der wichtigen Bücher vorhanden.

Wie geht es weiter mit dem UAA?
Das Ungers-Archiv für Architekturwissenschaft ist eine Stiftung und hat mit den Büchern einen einzigartigen Grundstock. Die Bücher stehen bis heute im Bibliotheksbau, der 1989 an das Wohnhaus von 1959 angeschlossen wurde. Darin ist auch der Nachlass meines Vaters enthalten. Mit Anja Sieber-Albers und Bernd Grimm bemühen wir uns, diese Bibliothek und den Nachlass in diesem Häuserkomplex als ein Zentrum der Architekturwissenschaft – das möchte ich betonen: nicht der Ungers-Wissenschaft – zu erhalten. Unterstützung bekommen wir von dem Freundeskreis der Stiftung.

Das heißt auch, dass das Haus eine begehbare Architektur sein soll, die für Führungen offen steht. Die Bibliothek soll aufgearbeitet werden, so dass Wissenschaftler sie besser nutzen und einsehen können. Die Universitäten Köln und Dortmund erarbeiten gerade einen Antrag an die DFG für die Stelle einer Bibliothekarin, die die Bibliothek so aufarbeiten soll, dass sie online einsehbar ist. Der Nachlass wird jetzt schon von Wissenschaftlern und Doktoranden sehr rege benutzt. Das sind zwei Standbeine. Das dritte Standbein ist, dass wir über den wissenschaftlichen Interessentenkreis hinaus mit unseren Veranstaltungen und Ausstellungen ein interessiertes Publikum erreichen wollen.

Welche Bereiche und Möglichkeiten eröffnet die wissenschaftliche Nutzung des Archivs?
Doktoranden und Wissenschaftler werden von uns mit Informationen und durch Arbeitsmöglichkeiten unterstützt. Zudem finden im UAA Sommerakademien statt, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Miami University in Oxford, Ohio. Wir möchten in Zukunft mit anderen Universitäten und Fachhochschulen Seminare oder besondere Workshops ausarbeiten, die bei uns stattfinden können. Eine Abteilung, die ich gerne schnell weiterentwickeln möchte, sind Reprints aus der Bibliothek von Büchern, die nicht mehr erhältlich sind, aber auch für ein normales Publikum von Interesse sind. All das macht einen großen und wichtigen Teil unserer Arbeit aus.

Gibt es auch die Möglichkeit, mit und in der Bibliothek zu arbeiten?
Es ist eine Präsenz-Bibliothek. Mit den Unis in Köln und Dortmund hoffen wir, wie schon gesagt, die Bestände online einsehbar zu machen. Wenn es soweit ist, wird man Bücher aussuchen können und an einem Arbeitsplatz im Haus einsehen können.

Ein regelrechter Publikumsverkehr wird – auch angesichts der Seltenheit und des Werts vieler Bände – nicht möglich sein?
Nein, wir können nur gezielte Benutzungen und Führungen durch die Bibliothek anbieten. Wir möchten die Bücher nicht wie Gefangene in die Regale hinter Gitter stellen. Die Bibliothek wird immer eine Präsenzbibliothek sein.

Wie finanziert sich die Stiftung?
Im Moment rein privat. Aber das ist ein Zustand, der nicht ewig dauern kann. Wir haben einen Freundeskreis, der sehr viel leistet. Er unterstützt Ausstellungen und beispielsweise ein Buchprojekt zum Haus Belvederestraße, das wir mit Norbert Nussbaum von der Universität Köln produzieren.

Wie müsste ein anderes Finanzierungsmodell aussehen?
Wir werden ein Konstrukt entwickeln müssen, das öffentliche wie private Sponsoren zusammenbringt. Die Stadt Köln, das Land NRW, Hochschulen und Firmen sowie private Sponsoren wären da denkbare Partner, um den langfristigen Erhalt der Stiftung zu gewährleisten. Aber das ist ein langwieriger Prozess.

Wäre es nicht einfacher gewesen, das Haus wie die Villa Savoye von Le Corbusier oder die Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau in ein Museum zu verwandeln?
Das ist auch eine Möglichkeit, wenn man einen Träger findet. Das Haus als begehbares Objekt ist nicht nur für die interessant, die am Räumlichen dieser Architektur etwas lernen möchten, sondern auch für ein Publikum, das sich allgemein mit Baukunst auseinandersetzen will.

Manchmal ecken wir mit unseren Plänen für die Stiftung an, weil das Archiv so sehr mit dem Namen meines Vaters verbunden ist. Aber der Häuserkomplex ist nicht „nur“ ein „Ungers“, sondern er ist ein Zeitzeuge der Architektur der fünfziger und achtziger Jahre. Und das gibt dem Haus eine Bedeutung, die über den Namen hinausgeht. Im Abgleich der Formen des Wohnhauses mit der reduzierten Architektur der Bibliothek wird das Ganze zu einem spannenden Architekturkomplex, der Räumlichkeit einfach erlebbar macht. Das ist für viele Menschen sehr spannend. Aber das ist nicht alles: Die wissenschaftliche Seite der Bibliothek ist gerade den Stiftern sehr wichtig gewesen.

Gibt es Anzeichen für wachsende Benutzerzahlen? In welchem Maße werden die Bestände der Bibliothek jetzt schon genutzt?
Die Nutzungsmöglichkeiten haben sich noch nicht sehr weit herumgesprochen. Das liegt auch daran, dass der Katalog noch nicht online ist. Es gibt viele Wissenschaftler, die den Nachlass benutzen, aber die Bibliothek eher weniger. Unsere Vorträge und Ausstellungen werden sehr gut besucht und finden immer reges Interesse mit sehr unterschiedlichen Besucherprofilen (von Studenten über Architekten bis zu bildungsinteressierten Bürgern).

Mit der Reihe „Ex Libris“ ist das Ungers-Archiv erstmals in die Öffentlichkeit getreten. Was ist das für ein Format?
Es heißt „Ex Libris“, weil seine Grundlage die Bibliothek und ihre Bücher sind. Wir laden jeweils einen Architekten und einen Architekturtheoretiker ein, ein Buch aus der Bibliothek auszusuchen und in einer Abendveranstaltung vorzustellen. Wir finden es schön, dass die Bücher aus den Regalen kommen, wieder lebendig werden und etwas zum zeitgenössischen Denken beitragen. Jeder geht an so einem Abend mit etwas Gelerntem aus dem Raum hinaus. Und dadurch, dass wir einen Architekten einladen, bleibt das Gespräch auch auf einem praktischen Niveau, nicht nur auf einem wissenschaftlichen. Das sind immer sehr anregende Abende.

Planen Sie weitere Formate dieser Art?
Nicht unbedingt dieser Art, aber wir wollen mit Verlagen zusammenarbeiten und Neuerscheinungen mit Vortragsveranstaltungen präsentieren. Wir streben Kooperationen mit anderen Institutionen an, aktuell mit dem Alvar Aalto Museum.

Was passiert 2013?
Es gibt mehrere Ex-libris-Veranstaltungen, die nächste ist Anfang März mit Klaus Theo Brenner und Michael Mönninger. Wir wollen ausnahmsweise das Format öffnen und im Februar in der Galerie Capitain / Petzel in Berlin eine Ex Libris Ex Artifex (also eine Ex Libris mit einem Künstler und einem Kunsthistoriker) veranstalten. Dann haben wir eine Ausstellung zum achtzigsten Geburtstag des Hockers von Alvar Aalto. Es gibt wieder eine summer academy mit der Miami University, Ohio – und voraussichtlich kommt auch die Cornell University für eine Woche zu uns. Und dann gibt es noch einen Reprint der Publikation„Die Stadt in der Stadt“, überarbeitet und ergänzt von Sebastien Marot und Florian Hertwick, das wir begleiten. An Arbeit fehlt es beileibe nicht. Aber ich glaube, der Erhalt der Stiftung ist jeden Aufwand wert.

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