Buch der Woche: Flämische Architektur

Feier der Teilhabe

Public Park and Bike Highway Leuven, Foto: Stijn Bollaert

Der Sänger Stromae ist ein gutes Beispiel für Vielschichtigkeit und Missverständnisse, die sich durch Brüche ausdrücken: Seine heiteren, zwischen Hip Hop, modernem Chanson und Electro changierenden Melodien täuschen, gerade wenn man des Französischen nicht mächtig ist, über die Ernsthaftigkeit der Themen hinweg, die er in seinen Texten behandelt. Soziale und ökonomische Zwänge, die wir im Tanzen verdrängen, das Aufwachsen ohne Vater oder Depressionen und Todessehnsucht, verpackt in tanzbare Rhythmen. Man muss etwas genauer hinhören, um verstehen zu können, worum es hier geht. Ähnlich verhält es sich mit belgischer Architektur. Auf verschiedenen Social Media-Kanälen tauchen seit einigen Jahren beständig neue, oft sehr junge Büros aus unserem Nachbarland auf, die durch beachtliche Architektur beeindrucken. Und das, nachdem Belgien lange das Beispiel für Hässlichkeit war. Das Blog Ugly Belgian Houses etwa trägt seit geraumer Zeit wunderfurchtbare Beispiele abstruser Architekturen zusammen.

Auch Florian Heilmeyer streift in seinem Essay zur nun vorliegenden Publikation „Celebrating Public Architecture. Buildings from the Open Call in Flanders 2000–21“ dieses „höchst unterhaltsame Blog“. Das von Heilmeyer gemeinsam mit dem Team Vlaams Bouwmeester und dem Flanders Architecture Institute publizierte Buch macht deutlich, dass sich in Belgien seit nunmehr gut zwanzig Jahren beeindruckendes tut in Sachen Baukultur.

Im nördlichen, flämisch sprechenden Teil Belgiens wurde im Jahr 2000 die Stelle des „Vlaams Bouwmeester“ geschaffen, eine Art „Flämischer Regierungsarchitekt“ also. Darin liegt ein Teil der Antwort, warum es in unserem Nachbarland immer wieder auch jungen Architekturbüros gelingt, mit beeindruckenden Projekten zu reüssieren. In Deutschland dagegen kommen neu gegründete Architekturbüros kaum zum Zuge, scheitern immer wieder an den Voraussetzungen zur Teilnahme an Verfahren, können mal nicht ausreichend viele Referenzen, mal nicht genug Mitarbeitende oder Umsatz nachweisen.

In der Folge der Installation des Vlaams Bouwmeester in Flandern aber wurde das Prinzip des sogenannten „Open Call“ etabliert. Öffentliche Einrichtungen und Behörden können sich bei jedem Bauprojekt – vom großmaßstäblichen Masterplan bis zum kleinen Einzelgebäude – für einen dieser Open Calls entscheiden. Ein in Europa einmaliges Verfahren. Seit 2000 wurden mehr als 700 Bauaufgaben auf diese Weise ausgeschrieben, knapp 350 öffentliche Architektur- und Infrastrukturprojekte konnten realisiert werden. „Celebrating Public Architecture“ dokumentiert siebzig davon.

Administrative Center Deinze, Foto: Tim Van de Velde

Wie genau der Open Call funktioniert, ist dankenswerter Weise im abschließenden Drittel der Publikation auf zehn Schritte herunter gebrochen. Soll künftig keiner sagen, man hätte mit Blick auf das Entstehen öffentlicher Projekte hierzulande nicht gewusst, wie es auch gehen könnte. Anne Malliet macht das in ihrem Text deutlich: Mit dem Open Call handelt es „sich nicht um einen Architekturwettbewerb, sondern um ein ‚Auswahlverfahren für Planer von öffentlichen Bauaufgaben‘.“ Es geht also nicht um den Entwurf, sondern um die Entwerfenden. Eine Haltung, die auf den ersten Vlaams Bouwmeester bOb Van Reeth zurückgeht, wie Malliet erklärt, der die Fokussierung auf einen fertigen Entwurf im Rahmen eines Wettbewerbs für den eigentlich Fehler hielt und stattdessen ein Verfahren schaffen wollte, das in jedem Planungsschritt nach der bestmöglichen Qualität strebt. Das führt auch dazu, dass nicht alle Projekte aus den Open Calls realisiert werden. Auch das ist Teil der Haltung. Das Lernen aus Fehlern – etwa bei der Entwicklung der Fragestellungen zu den Open Calls – ist bewusst einkalkuliert und wird als Momentum einer positiven Fehlerkultur für künftige Calls genutzt. Der Regierungsarchitekt agiert dabei „kuratierend“ als „Mediator“ und „Brückenbauer“ zwischen den am Bau Beteiligten, wie Anne Malliet schreibt. Entsprechend lässt sich aus den gebauten Ergebnissen nach zwanzig Jahren kein genuin „flandrischer Stil“ oder formal-ästhetische Vorlieben ablesen.

Vielmehr funktioniert das Buch dank seines Formats und der prägnanten Texte wie ein bunter Reiseführer. Eines Tages, wenn Hochrisikogebiete, Risikogebiete, Reisebeschränkungen und dergleichen hoffentlich hinter uns liegen, kann das Buch seine ganze Stärke vor Ort in Nordbelgien ausspielen und zu den Bauten von 51N4E, Bovenbouw Architectuur, Compagnie O, Dierendonckblancke, KAAN, Ney & Partners, noAarchitecten, NU architectuuratelier, OFFICE Kersten Geers David Van Severen, RCR Arquitectes, Robbrecht en Daem, Sergison Bates, Eduardo Souto de Moura, Xaveer de Geyter, Zaha Hadid und vielen mehr führen.

Social Housing Berlaar, Foto: Tim Van de Velde

Es liegt hier eine eindrückliche Sammlung von Projekten vor, die beweist, wie wenig Architektur mit dem vermeintlichen Genie-Geist Einzelner zu tun hat und wie sehr sie das Ergebnis eines inklusiven kreativen Prozesses ist, der Planende ebenso einbindet wie Auftraggebende. Es ist bloß schade, dass die Auswahl an Projekten in einem gedruckten Buch notwendigerweise endlich ist. Gut also, dass wir inzwischen über den digitalen Raum verfügen – so schließt sich auch dieser Text der Aufforderung Florian Heilmeyers aus seinem Einleitungstext an und lädt zum Besuch der Website https://www.vlaamsbouwmeester.be/en/instruments/open-call ein. Dort finden sich fein dokumentiert alle Projekte dieser beeindruckenden Verfahrenskultur.

David Kasparek

Florian Heilmeyer (Hrsg.): Celebrating Public Architecture. Buildings from the Open Call in Flanders 2000–21, gemeinsam publiziert mit: Team Vlaams Bouwmeester u. Flanders Architecture Institute (VAi), 256 S., 300 farb. Abb., Klappenbroschur, Englisch, Jovis Verlag, Berlin 2021, 36,– Euro, ISBN 978-3-86859-692-2

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