Buch der Woche: Traditionelle Bauweisen

Gegen architektonische Armut

Im Laufe der letzten Jahre hat sich auch in unseren Breiten der Begriff der vernakulären Architektur durchgesetzt. Gemeint ist damit das Bauen der Menschen ohne Unterstützung professioneller Planer, rein aus dem Ort und den jeweils zur Verfügung stehenden Materialien heraus. Christian Schittich, studierter Architekt und von 1998 bis 2016 Chefredakteur der Zeitschrift Detail, hat dafür in seinem opulenten „Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten“ die einfache Umschreibung  „Traditionelle Bauweisen“ gewählt und zum Titel des gut 380 Seiten umfassenden Buchs gemacht.

Tigermatin, Marokko, Foto: Jürgen Adam

Tigermatin, Marokko, Foto: Jürgen Adam

Schittich macht seinen Ansatz der Sammlung gleich zu Beginn deutlich: Vernakuläre Architektur ist ein globaler Schatz. Einer jedoch, der in Teilen schon jetzt unwiederbringlich verloren ist und durch fortschreitende Globalisierung und Industrialisierung weiter in Gefahr gerät. Doch, und das wird im Leseverlauf klar, möchte der Herausgeber hier nicht die Asche vergangener Zeiten konservieren oder rückwärtsgewandten Historismus betreiben, sondern das Feuer weitergeben und Anschlussmöglichkeiten für heutige Architektinnen und Architekten aufzeigen. Denn, so macht Schittich in seinem Vorwort klar: Die Beschreibung von Architektur, auch von vernakulärer Architektur, kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Das Bauen war schon immer einem steten Wandel unterworfen, Bautechniken wie Bedürfnisse haben sich geändert, das Wissen um beides ist stetig gewachsen.

Christian Schittich selbst ist es, der den Reigen der insgesamt 36 Autorinnen und Autoren mit zwei einleitenden Beiträgen eröffnet. Zum einen beleuchtet er die soziokulturelle Bedeutung des Hauses, beschreibt die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens in den Bauten selbst wie ihre Relevanz für verschiedene gemeinschaftsbildende Riten, zum anderen nimmt er Materialien und Konstruktionsweisen im Allgemeinen in Augenschein und leitet daraus folgerichtig die notwendigen Bedingungen für das Entstehen von Architektur am jeweiligen Ort ab.

Umgebinde, Tschechien, Foto: Christian Schittich

Umgebinde, Tschechien, Foto: Christian Schittich

Das Buch springt dann auf dem Globus umher: von Europa nach Osten in Richtung Asien, weiter nach Ozeanien, zurück nach Afrika und von dort nach Amerika. Der gebotene Überblick ist immens: Vom niederdeutschen Hallenhaus über die Zelte sibirischer Jäger und Nomaden hin zu Tessiner Steinbauten geht es in Europa. Die bekannten Tulou-Bauten im chinesischen Fujian sind im Kapitel über Asien ebenso wie mongolische Jurten und koreanische Hanoks untergebracht. Andrea Rieger-Jandl umkreist die vernakuläre Architektur Ozeaniens umfassend, ohne sich dabei auf nur eine Inselgruppe zu beschränken und findet Ergänzung in Texten zur Maori-Architektur und den spektakulären Baumhäusern der Korowai im indonesischen Teil Neuguineas.

Jurte, Tianshan, Foto: Christian Schittich

Jurte, Tianshan, Foto: Christian Schittich

Rundhäuser aus Südafrika finden sich im Folgenden Abschnitt zum afrikanischen Kontinent ebenso wie traditionelle Bauten aus Marokko und Lehm-Architekturen der Sahel-Zone. Etwas weit erscheinen die Sprünge hier ebenso wie im abschließenden Kapitel zu Amerika, das von den Bauformen im indigenen Nordamerika großzügig über die Kolonialarchitektur Kolumbiens hin zur indigenen Architektur im Amazonasgebiet schreitet. Dass die Lücken in diesen beiden Kapiteln – auch im Vergleich zu den anderen – recht groß sind, ist wiederum interessant, erscheint doch der afrikanische Kontinent einmal mehr als Terra incognita, die, obschon vor den Toren Europas, nach wie vor vernachlässigt abgebildet wird. Die invasorischen Einflüsse in Nord- und Südamerika – von der feindlichen Landnahme erster Siedler bis hin zur kapitalistischen Überformung jeglichen Individualismus unserer Tage – haben an vielen Stellen schlicht keine Zeugnisse traditioneller Bauformen übrig gelassen.

In allen Kapiteln werden neben der speziellen Hausform die Region, in der sie zu finden ist, die dortige Klimazone und die verwendeten Materialien benannt. Historische Fotos, Stiche und Zeichnungen ergänzen aktuelle Aufnahmen und Pläne. Dabei zeigt der Atlas nicht nur dörfliches Leben, sondern auch städtische Häuser, wie im indischen Jaipur, dem jemenitischen Sanaa oder dem süddeutschen Raum.

Christian Schittich (Hrsg.): Traditionelle Bauweisen. Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten

Christian Schittich (Hrsg.): Traditionelle Bauweisen. Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten

Parallelen wie Unterschiede, die schon in Schittichs Einführungstext aufscheinen, werden im ganzen Buch deutlich. Von der Art, wie Menschen unter einem Dach zusammenleben, ob als Familie, Großfamilie, Clan oder gar als ganzes Dorf, hin zu den räumlichen und formalen Ausdrücken der Architekturen, die eben nicht rein zufällig auf spontane formale Launen zurückzuführen sind, sondern sich aus konstruktiven Notwendigkeiten der zur Verfügung stehenden Materialien ergeben und so auch nur bestimmte Verzierungen zulassen. Zwar lesen sich einige Beiträge etwas schwergängig, kommen sie doch über den Ton eines Völkerkundemuseums des vergangenen Jahrtausends nicht hinaus, informativ und eindrücklich ist das Buch dennoch in Gänze. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Nicht nur ob der gezeigten einzelnen Fallbeispiele, sondern vor allem wegen ihrer Zusammenschau. Das betrifft die verwendeten Bautechniken ebenso wie den radikalen Ortsbezug, die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens gleichermaßen wie die räumlichen und formal-ästhetischen Ergebnisse. Der Atlas ist nicht nur eine faszinierende Sammlung historischer Bauten, sondern auch eine Schatzkiste für aktuell drängende Fragen der Architektur.
David Kasparek

Christian Schittich (Hrsg.): Traditionelle Bauweisen. Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten, 384 S., zahlr. Fotos und Zeichnungen, 79,95 Euro, Birkhäuser, Basel 2019, ISBN 978-3-0356-1609-5

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