Volker Busch-Geertsema

Housing First

Ein Modell zur Überwindung von Wohnungslosigkeit

Housing First ist ein Programmansatz, mit dem Wohnungslose mit komplexen Problemlagen umgehend in abgeschlossenen und dauerhaften Individualwohnraum gebracht werden, ohne die Bedingung, vorher „Wohnfähigkeit” erlangt zu haben oder abstinent zu leben. Der Bezug einer eigenen Wohnung mit Bleibeperspektive steht hier am Anfang und nicht – wie vielerorts üblich – am Ende einer „Hilfekette“. Wohnbegleitende persönliche Hilfen von durchaus erheblicher Intensität werden nachdrücklich angeboten, aber ihre Annahme ist freiwillig. Therapieteilnahme oder Abstinenz sind weder Voraussetzungen für die Versorgung mit Normalwohnraum noch für den Verbleib darin, Risikominimierung und Schadensreduzierung beim Gebrauch von Suchtmitteln (harm reduction) wird Vorrang eingeräumt.

Der Housing-First-Ansatz steht damit im Gegensatz zu den weit verbreiteten Strategien einer schrittweisen Integration in Stufensystemen, bei denen aufeinander aufbauende Ersatzwohnformen durchlaufen werden müssen, bevor ein reguläres Wohnverhältnis beginnen kann (von Notunterkünften über „Aufnahmehäuser“ und „Übergangswohnheime“, „Trainingswohnungen” und „Betreute Wohngemeinschaften” bis schließlich zum Bezug der „Finalwohnung”, wie sie in Österreich so treffend bezeichnet wird). Die Zahl der Stufen und die Durchlässigkeit von „differenzierten Hilfesystemen“ mögen dabei variieren, aber auch heute noch ist die Vorstellung verbreitet, dass viele Wohnungslose „Wohnfähigkeit“ erst außerhalb des normalen Wohnungsmarkts erwerben müssen. Wohnungslose „mit Problemen“ müssen sich in diesem System den Zugang zu Normalwohnraum „verdienen“, durch „Mitwirkungsbereitschaft“, Abstinenz, Compliance. Im Idealtypus des Stufensystems sind in den unteren Bereichen Privatsphäre, persönliche Autonomie und Normalität deutlich eingeschränkt, werden aber immer größer, je näher sich der oder die Wohnungslose an die Normalwohnung mit Mietvertrag „herangearbeitet“ hat. Betreuung, Kontrolle und Disziplinierung nehmen dagegen nach „oben“ hin ab, bis schließlich eine eigene Wohnung ohne weitergehende Hilfen bezogen werden kann.

„Eine Struktur ist das A und O, du brauchst ein Umfeld, wo du der Meinung bist, die nehmen dich für voll und die dir ab und zu mal in den Arsch treten, wenn du mal ’nen Termin sausen lässt und dass sie dich nicht fallen lassen.“

Das Problem dabei besteht darin, dass der stufenweise Aufstieg häufig scheitert, „Abstürze” nicht selten und die vorgesehenen Aufstiegsmöglichkeiten oft blockiert sind. Aus der intendierten „Stufenleiter zur Integration“ wird allzu häufig eine Rutsche in die Ausgrenzung. Drehtüreffekte sind nicht selten und es findet sich ein „Kern“ von Frequent Flyers, Wohnungslosen, die auf längere Dauer im Hilfesystem verbleiben und sich von einer Einrichtung und Notlösung zur nächsten bewegen (oder bewegt werden), ohne Chance auf die Versorgung mit einer normalen Wohnung.

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

Die Kritik an solchen Stufensystemen macht sich unter anderem an folgenden Punkten fest: Durch den Zwang zum wiederholten „Umzug” zwischen verschiedenen Unterbringungsformen entsteht Stress und „Entwurzelung” und keine Bleibeperspektive. Immer, wenn sich die wohnungslose Person halbwegs mit den Regeln und der Infrastruktur, dem Betreuungspersonal und den anderen dort Untergebrachten vertraut gemacht hat, erfolgt ein Bruch und ein Wechsel des Aufenthalts. Fähigkeiten, die in institutionellen Settings und zwangsgemeinschaftlichen Wohnformen erlernt werden, sind nicht unbedingt förderlich und übertragbar auf unabhängiges Einzelwohnen. Auch sind Wahlmöglichkeiten und Freiheiten sowie die Privatsphäre insbesondere in den unteren Stufen stark eingeschränkt. Dies gilt auch für den Schutz der persönlichen Habseligkeiten. Bis zum Einzug in die „Finalwohnung“ kann sehr viel Zeit vergehen und zwischen den verschiedenen Stufen gehen zu viele Klientinnen und Klienten „verloren“. Lokale Stufensysteme tendieren zur Ausweitung im unteren Bereich („niedrigschwellige” Unterkünfte, Winterquartiere, „Obdach Plus“ / „Pension Plus“ etc.), während „oben” die Zugänge erschwert sind („Flaschenhals“).

„Du kannst Pech haben, dass du mindestens 200 Wohnungen angeguckt hast, bevor du eine Zusage bekommst. Man kann es ja ausrechnen, wann ein Obdachloser die Chance hat, eine Wohnung zu kriegen.“

Mit Stufensystemen und Sonderwohnformen am zweiten Wohnungsmarkt steigt die Zahl der Wohnungslosen häufig, anstatt zu sinken. Sonderwohnformen geben den Vermietern am regulären Wohnungsmarkt Gelegenheit, „Risikohaushalte“ an den „zweiten Wohnungsmarkt“ zu verweisen. Stufensysteme und Sonderwohnformen tragen zur Stigmatisierung von Wohnungslosen als „wohnunfähig” bei. Das Resultat ist ein System, in dem Wohnungslosigkeit eher verwaltet als gezielt reduziert wird. Housing First beendet dagegen Wohnungslosigkeit im ersten Schritt und folgt in gewissem Sinne dem Prinzip learning by doing. So wie man Schwimmen am besten im Wasser lernt, ist auch der Umgang mit realen Wohnbedingungen und den Herausforderungen des individuellen Wohnens am besten geeignet, bestehende Hemmnisse beim Wohnungserhalt zu überwinden. Die Wohnung ist zugleich Grundvoraussetzung für weitergehende Integration (vgl. Busch-Geertsema, 2014 a und b). Als Pionier des Housing-First-Ansatzes gilt die Organisation Pathways to Housing und deren Direktor Sam Tsemberis, der diesen Ansatz in den neunziger Jahren erstmals in New York angewandt und sich dabei ausschließlich auf Wohnungslose mit psychischen Erkrankungen und Suchtmittelmissbrauch konzentriert hat.

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

In Anlehnung an Prinzipien, die von Sam Tsemberis (2010, S. 18) für das amerikanische Modell des Housing-First-Ansatzes formuliert wurden, benennt der Housing First Guide für Europa(1) folgende acht Grundprinzipien: Wohnen ist ein Menschenrecht: Wohnung als Grundrecht (Wohnfähigkeit nicht Voraussetzung, aber wöchentlicher Hausbesuch oft verpflichtend); Wahlfreiheit und Entscheidungsmöglichkeiten für die Nutzerinnen und Nutzer: zentrale Bedeutung, so viel Selbstbestimmung wie möglich; Trennung von Wohnung und Unterstützung: klare Rollentrennung, Ablehnung wohnbegleitender Hilfe führt nicht zur Kündigung, Wohnungsverlust und Wohnungswechsel nicht zum Abbruch der Hilfe; Recovery-Orientierung: ganzheitliche Orientierung auf das Wohlbefinden der unterstützten Person. Harm reduction: Schadensminimierung; akzeptierender Ansatz, Abstinenz von Drogen und Alkohol steht nicht im Vordergrund. Unterstützung bei der Verminderung von problematischem Konsum. Aktive Beteiligung ohne Druck und Zwang: Housing First arbeitet nicht mit Sanktionen, wohnbegleitende Hilfe wird nachdrücklich angeboten, aber ihre Annahme beruht auf Freiwilligkeit. Personenzentrierte Hilfeplanung: flexible und individualisierte Unterstützung orientiert an den Bedürfnissen und Lebensentwürfen der einzelnen Nutzer. Flexible Unterstützung für so lange wie nötig: keine strikte zeitliche Begrenzung, der Hilfebedarf ist oft schwankend und kann länger andauern.

Die Liste der wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit des Ansatzes ist inzwischen beeindruckend lang. In den vergangenen Dekaden sind in den USA und in Kanada mehrere Studien durchgeführt worden, die mit kontrollierten Zufallsexperimenten (randomised controlled trials, dem „Gold-Standard“ in der Wirkungsforschung) einen hohen Wohnungserhalt (und geringere Kosten) bei einer Zufallsauswahl von Wohnungslosen mit psychiatrischer Diagnose in Housing-First-Projekten gegenüber denjenigen im gängigen Hilfesystem belegten.(2) Das von der EU-Kommission finanzierte Projekt Housing First Europe erbrachte ebenfalls hohe Wohnungserhalt-Quoten (von 80 bis über 90 Prozent) für unterschiedliche Zielgruppen in vier von fünf ausgewählten Projektstandorten (Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen, Lissabon, vgl. Busch-Geertsema 2013 a und b). Inzwischen liegen positive Ergebnisse von Housing-First-Pilotprojekten in Europa unter anderem aus Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Spanien vor.

„Was sich ändern muss? Also bezahlbarer Wohnraum ist Nummer eins und mindestens zwei Jahre Betreuungsangebot, um zu lernen, regelmäßig den Postkasten zu öffnen, die Wohnung zu putzen. Und das mindestens zwei Jahre, nachdem man eine Wohnung bekommen hat. Man muss die Leute erstmal daran gewöhnen, eine Struktur zu haben, zum Beispiel daran, Papiere auszufüllen. Bei den meisten scheitert’s daran, Papiere auszufüllen. Wenn du es jahrelang nicht umgesetzt gekriegt hast, versuch mal in heutigen Zeiten einen Hartz-IV-Antrag auszufüllen. Die meisten sind froh, wenn sie Buchstaben lesen können. Die verstehen gar nicht den Inhalt, was da drinsteht.“

Viele Städte haben einen ausgesprochen engen Wohnungsmarkt und es fehlt an preiswerten Wohnungen gerade für Alleinstehende. Muss die Umsetzung von Housing First also an diesem strukturellen Mangel scheitern? Zunächst ist festzuhalten, dass der Housing-First-Ansatz, so wie er in diesem Beitrag vorgestellt wird, erstmals in New York sehr erfolgreich realisiert wurde. Und New York hat keinen entspann­ten Wohnungsmarkt! Dennoch, auch viele Modellprojekte zur Erprobung von Housing First in Europa und anderswo haben mit dem Problem des Zugangs zu Normalwohnraum zu kämpfen. Einige von ihnen haben ebenfalls „Trägerwohnungen“, aber mit dem wesentlichen Unterschied, dass die dort Versorgten so lange bleiben können, wie sie möchten, und dass die Wohnungsversorgung auf Dauer angelegt ist.

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

Die Debatte um Housing First setzt den Zugang zu bezahlbarem Normal-Wohnraum ins Zentrum der Auseinandersetzung. Ein weiterer Ausbau des zweiten Wohnungsmarkts mit eingeschränktem oder völlig fehlendem Mieterschutz, Betreuungsauflagen und zeitlicher Limitierung des Aufenthalts ist keine Lösung, sondern Teil des Problems.

Bei der Wohnungsversorgung von Wohnungslosen gibt es mindestens zwei zentrale Probleme: Die Nachfrage am Wohnungsmarkt übersteigt das Angebot, insbesondere bei erschwinglichen Kleinwohnungen. Das andere aber ist ein spezifisches Zugangsproblem (Schufa-Anfragen, Bezahlbarkeit, Ablehnung von Wohnungssuchenden mit Unterstützungsbedarf). Wenn Wohnungslosigkeit verringert werden soll, muss insbesondere auch das zweite Problem angegangen werden, eine rein quantitative Ausweitung des Bestands reicht dafür nicht aus.

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

Die Krise durch die Zuwanderung einer großen Zahl von Geflüchteten hat den ohnehin bestehenden Wohnungsmangel verschärft, aber sie hat den Bedarf an zusätzlichem Wohnraum auch überdeutlich gemacht und vielerorts gezeigt, was geht, wenn politischer Wille vorhanden ist. Aber eine allgemeine Ausweitung des Wohnungs­angebots löst das Problem der Zugangsbarrieren für Wohnungslose noch lange nicht. Gezielte Maßnahmen zur Versorgung von Wohnungslosen mit dauerhaftem Indivi­dualwohnraum sind nötig, und es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie auch unter ungünstigen quantitativen Bedingungen privilegierte Zugänge für Wohnungslose zu normalem Wohnraum geschaffen werden können: Die Bauprojekte der Ambulanten Hilfe Stuttgart, die quasi „in Serie“ etwa alle zwei Jahre ein neues Wohnhaus erstellt und damit Wohnungslose mit dauerhaftem Wohnraum zu regulären Bedingungen versorgt, sind ein positives Beispiel. Es gibt einige wenige weitere Bauprojekte im Bundesgebiet, die ebenfalls von freien Trägern oder in enger Kooperation mit ihnen exklusiv für Wohnungslose errichtet wurden und ausgesprochen positiv verlaufen sind, so etwa in Bielefeld, Herford, Hannover und in Hamburg. Aber warum ist ihre Zahl immer noch so gering? Wieso werden nicht mehr Träger in diesem Feld aktiv?

Im Folgenden wird eine ganze Reihe weiterer Beispiele für gezielte Maßnahmen zur Versorgung von Wohnungslosen mit dauerhaftem Individualwohnraum aufgezeigt.(3) Die Aufzählung ist sicher nicht vollständig, jedoch ist auffällig, dass erfolgreich an einigen Orten praktizierte Ansätze noch weit davon entfernt sind, bundesweit Wirkung zu entfalten: Soziale Wohnraumagenturen mit unterschiedlicher Ausrichtung gibt es in Karlsruhe (SozPädal), bei der Neuen Wohnraumhilfe Darmstadt oder bei der Sozialen Wohnraumhilfe Hannover. In Belgien (Flandern) werden solche Sozialen Wohnraum­agenturen flächendeckend gefördert und in Finnland gibt es ein nachahmenswertes Stiftungsmodell zum Ankauf und Neubau / Umbau von Wohnungen für Wohnungslose (die Y-Stiftung). In Deutschland agiert die SAGA Hamburg mit konsequenter Nutzung kommunalen Wohnungseigentums, weitere Beispiele gibt es bei Kirchen und freien Trägern (AH Stuttgart, AWO Reutlingen). Makleransätze (Vermittlung, ohne selbst zu bewirtschaften) gibt es in vielen Städten und Dänemark hat ein Regierungsprogramm für unkonventionelle Wohnformen für besonders schwierig zu versorgende Wohnungslose („Skæve huse for skæve existenser“).

„Ich bin zufrieden. Dass ich überhaupt zehn Jahre eine Wohnung führe, ist schon gut. Am meisten gefällt mir, dass ich mich zurückziehen kann. Dass ich die Tür aufmachen und zumachen kann, wenn ich will. Dass ich meine allgemeinen Kosten tragen kann, ohne dass ich jetzt Angst haben muss, den Postkasten aufzumachen, weil ich wieder neue Schulden habe oder sonst irgendwas. Ich kann abschalten. Und wenn ich der Meinung bin, ich brauch den Kontakt mit irgendwelchen Leuten, dann hab’ ich meine Jungs oder Mädels. Aber ich kann mich jederzeit zurückziehen, das kann ein Obdachloser nicht.“

Die dargestellten Ansätze der gezielten Akquisition von Wohnraum für Wohnungslose haben bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie verschaffen Wohnungslosen einen privilegierten Zugang zu bezahlbarem und angemessenem Wohnraum. Der dauerhafte Verbleib in den Wohnungen ist gesichert und die Mieterrechte werden nicht eingeschränkt. Das unterscheidet diese Projekte – trotz des gesonderten Zugangs für die Zielgruppe – auch von den zuvor kritisierten Sonderwohnformen des zweiten Wohnungsmarkts. Wenn behauptet wird, dass Housing First wegen des Mangels an Wohnungen nicht umsetzbar sei, so muss auch gefragt werden, ob tatsächlich alles versucht worden ist, um trotz der zugegebenermaßen widrigen strukturellen Bedingungen Wohnungen für Wohnungslose zu akquirieren.

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

„BISS – Einblicke“: Wohnungen von Verkäuferinnen und Verkäufern der Münchner Straßenzeitung, Foto: Rainer Viertlböck

Als Resümee ist festzuhalten: Housing First ist ein vielversprechender Ansatz, um Wohnungslosigkeit zu verringern, anstatt weiter Wohnungslosigkeit zu verwalten. Der Ansatz ist in den USA und vielfach auch in Europa vor allem auf Langzeitwohnungslose mit komplexen Problemlagen ausgerichtet und dabei sehr erfolgreich. Die Wirksamkeit ist international und mit wissenschaftlich robusten Studien vielfach belegt. Zwischenzeitlich wird Housing First im Bereich der Suchtkrankenhilfe und der Hilfen für wohnungslose psychisch Kranke auch im deutschsprachigen Raum zunehmend als innovativer Ansatz rezipiert und verbreitet. Umso erstaunlicher ist es, wie lange es gedauert hat, bis der Diskurs über den Ansatz auch in der Fachdiskussion der deutschen Wohnungslosenhilfe an Bedeutung gewonnen hat. Nun gilt es, die Potenziale von Housing First zu nutzen.

Stufensysteme sind problematisch und haben nicht-intendierte negative Effekte: Es sollte deshalb möglichst keinen weiteren Ausbau dieser Stufensysteme mit dem Hinweis auf die Wohnungsmarktlage geben, sondern im Gegenteil: Trotz der widrigen strukturellen Gegebenheiten sollte der Abbau von Sonderwohnformen vorangetrieben werden. Housing First kann und wird nicht das einzige Angebot für Wohnungslose sein, eine kleine Gruppe von Wohnungslosen bedarf anderer, besonderer Wohnformen, eine größere weniger intensive Unterstützung beim Wohnen. Zugang zu Wohnraum für Wohnungslose ist fast überall ein zentrales Problem, auch dort, wo Housing First bereits praktiziert wird. Die entsprechenden Barrieren zu überwinden erfordert gezielte Strategien und die Überzeugung, dass ein zweiter Wohnungsmarkt mit Sonderwohnformen keine vernünftige Alternative sein kann. Auch unter schwierigen strukturellen Bedingungen gilt es, das Ziel einer Verringerung von Wohnungslosigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu bedarf es gezielter Strategien auf allen Ebenen (Kommunen, Länder, Bund).

„Du musst immer aufpassen, dass du deine innere Struktur nicht verlierst. Und auch mal Nein zu sagen. Das fängt schon mit der Frage an: ‚Du hast doch jetzt ’ne Wohnung? Können wir bei dir schlafen?‘ Aber das kannst du nicht bringen. Du wirst sie nicht wieder los.“

Die Versorgung von Wohnungslosen mit normalem und dauerhaftem Wohnraum ist nicht nur eine Mengenfrage, sondern auch eine Frage der Verteilung und des Zugangs. Um Wohnungslosen einen vorrangigen Zugang zu Wohnraum zu ermöglichen, müssen bestehende Instrumente genutzt und neue entwickelt werden (Stiftungsmodelle, Soziale Wohnraumagenturen, städtebauliche Verträge). Wenn der Zugang zu Normalwohnraum – gegebenenfalls mit wohnbegleitenden Hilfen – Dreh- und Angelpunkt zur Reduzierung von Wohnungslosigkeit ist, sind erheblich mehr Anstrengungen zur gezielten Wohnungsbeschaffung für Wohnungslose nötig. Der Neubau bezahlbarer Wohnungen ist dabei bedeutsam, hilft Wohnungslosen aber nur, wenn er unmittelbar mit Belegungsquoten und privilegierten Zugängen verknüpft wird. Gebraucht werden gezielte Non-Profit-Ansätze zur Wohnungsbeschaffung für Wohnungslose, im Neubau und viel mehr noch im Bestand.

Flexible und pro-aktive aufsuchende Hilfen sind essentiell zur nachhaltigen Reintegration von Wohnungslosen mit entsprechendem Bedarf in normales Wohnen und zur Prävention. Die Erschließung von dauerhaftem Individualwohnraum für Wohnungslose muss intensiver und nachdrücklicher verfolgt werden als in der Vergangenheit. Der Housing-First-Ansatz und eine Verbesserung der Prävention von Wohnungslosigkeit sind dabei von zentraler Bedeutung.

Prof. Dr. rer pol Volker Busch-Geertsema ist Diplomsozialwissenschaftler und seit 1991 als Projektleiter bei der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS Bremen e.V.) beschäftigt. Seit 2015 ist er „Honorary Professor“ der Heriot Watt University, Edinburgh, Schottland. Bereits 1995 wurde er als nationaler Korrespondent für Deutschland bei dem von der EU-Kommission geförderten European Observatory on Homelessness berufen, für das er seit 2009 als Koordinator tätig ist. Er hat zahlreiche Bücher, Aufsätze, Studien und Gutachten zu Wohnungslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Integration verfasst und war an diversen europäischen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt.

Zu den Bildern: Für das Projekt „BISS – Einblicke“ hat Rainer Viertlböck Wohnungen von BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufern fotografiert. BISS ist ein Zeitungsprojekt, das seit 1993 Bürgerinnen und Bürgern in sozialen Schwierigkeiten hilft, sich selbst zu helfen. Das Magazin ist politisch unabhängig und versteht sich als Lobby für Menschen, die von Armut und Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind. Es wird von über 100 armen und ehemals obdachlosen Menschen verkauft, die die Hälfte des Verkaufspreises behalten. Zurzeit sind 53 von ihnen fest angestellt. BISS setzt auf Arbeit als Schlüssel zur Integration und schafft für Personen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze (www.biss-magazin.de).

Anmerkungen
(1) Die deutsche Fassung ist verfügbar unter https://housingfirsteurope.eu/assets/files/2017/12/housing-first-guide-deutsch.pdf.
(2) Vgl. dazu die mit zahlreichen Quellen unterlegten Ausführungen in Padgett et al. (2016), S. 48 ff. und Aubry et al. (2015).
(3) Zur weiteren Erläuterung wird auf eine Publikation des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW verwiesen, an deren Erarbeitung der Autor beteiligt war: MAGS NRW (2019).

Literatur
Aubry, Tim / Nelson, Geoffrey / Tsemberis, Sam: Housing First for People with Severe Mental Illness Who Are Homeless. A Review of the Research and Findings from the At Home / Chez Soi Demonstration Project, in: Canadian Journal of Psychiatry, Heft 11 / 2015, S. 467-474.
Busch-Geertsema, Volker: Housing First Europe. Final Report, hrsgg. v. Gesellschaft für innovative Sozialforschung (GISS), Bremen 2013(a), www.giss-ev.de//files/giss/upload/Pdf/FinalReportHousingFirstEurope.pdf.
Busch-Geertsema, Volker: Housing First Europe. Ein europäisches Pilotprojekt zur Behebung von Wohnungslosigkeit bei Personen in komplexen Problemlagen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, November 2013(b), S. 503-509.
Goering, Paula / Veldhuizen, Scott / Watson, Aimee / Adair, Carol / Kopp, Brianna / Latimer, Eric / Nelson, Geoff / MacNaughton, Eric / Streiner, David / Aubry, Tim (2014): National Final Report. Cross-Site At Home / Chez Soi Project, hrsgg. v. Mental Health Commission of Canada, Calgary 2014, www.mentalhealthcommission.ca/sites/default/files/mhcc_at_home_report_national_cross-site_eng_2_0.pdf.
Henwood, Benjamin F. / Stanhope, Victoria / Padgett, Deborah K.: The Role of Housing. A Comparison of Front-Line Provider Views in Housing First and Traditional Programs, in: Administration and Policy in Mental Health, Heft 2 / 2011, S. 77-84.
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Wohnungsnotfallhilfen vorausschauend planen und präventiv handeln. Eine Praxishilfe für Kommunen und freie Träger der Wohlfahrtspflege, Düsseldorf 2019.
Padgett, Deborah K. / Henwood, Benjamin F. / Tsemberis Sam J.: Housing First. Ending Homelessness, Transforming Systems, and Changing Lives. Oxford 2016.
Tsemberis, Sam: Housing First. The Pathways Model to End Homelessness for People with Mental Illness and Addiction, Center City / Minn. 2010.

Dieser Text ist erschienen in der architekt 2/21mittendrin außen vor. obdachlosigkeit in der stadt“. Zu den Zitaten siehe den Einführungsbeitrag.

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