Alltagsorientierung und gendergerechte Planung

It’s the Care Work, Stupid!

Von Eva Kail

Wir leben größtenteils in Städten, die gemäß einer männlichen Lebenswirklichkeit entworfen wurden: Für den Ernährer, der morgens mit dem Auto ins zumeist zentrumsnahe Büro und abends zurück nach Hause fährt. Unberücksichtigt bleibt dabei der Alltag der – oft immer noch weiblichen – Versorgenden und der Versorgten, die gänzlich andere Anforderungen an den öffentlichen Raum und Verkehr stellen. Dort setzt Gender Planning an. Nicht nur geht es darum, die Stadt sozial gerecht zu gestalten, sondern auch darum, sie für die Klimakrise zu ertüchtigen.

Die Freiheit der einen ist die Unfreiheit der anderen, auch in räumlicher Sicht. Raumproduktion war sehr lange fast ausschließlich von Männern geprägt. Das gilt für die Bautätigkeit im engeren Sinn, das gilt aber auch für die strukturell wirksamen planerischen Konstruktionsarbeiten. Die Entscheidungs- und Dispositionsmacht über städtische Lebensräume ist noch immer homogen und einseitig wirksam. Viele andere Lebenszusammenhänge werden oft unbewusst ausgeblendet.

„Planer sind autofahrende Männer der Mittelschicht – und so sehen unsere Städte auch aus“, lautete der vereinfachende, aber trotzdem zutreffende Befund der Auseinandersetzung mit Planungsfragen im Zuge der zweiten Frauenbewegung. Ob Kerstin Dörhöfer und Ulla Terlinden in Berlin oder Dolores Hayden im angloamerikanischen Raum: Ihre luziden und wegweisenden Analysen zu Beginn der 1970er-Jahre zeigten bereits viele Facetten von stadtstrukturellen Barrieren und deren Einfluss auf Alltagszusammenhänge auf. Ihre planerischen Schlussfolgerungen haben nichts an Aktualität verloren, ganz im Gegenteil.

Alltagsraum Stadt: ein vielschichtiges Gewebe

Der Elinor-Ostrom-Park im „Quartier am Seebogen“ in der Wiener Seestadt Aspern nutzt auch die Hochlage der U-Bahn: im Vordergrund ein Fahrradparcours für die Kleinsten, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

In die hochgezogenen Brauen des Chefs zu sagen: „Es tut mir leid, ich kann heute leider keine Überstunden machen“, vom Büro wegzuhetzen, ungeduldig auf den Bus zu warten. Im Gedränge natürlich wieder keinen Sitzplatz zu finden, gedanklich die Einkaufsliste zusammenzustellen, sich zu überlegen: „Soll ich zuerst die Tochter abholen, weil die Kindergärtnerin immer so vorwurfsvoll schaut, wenn es später wird als halb fünf? Mit ihr dauert das Einkaufen länger, dafür muss ich nicht so weit nach Hause tragen, in die Reinigung sollte ich auch noch wegen des grauen Anzugs, das Geschenk für den Schwiegervater muss ich noch unbedingt vor dem Wochenende besorgen, heute schaff ich das sicher nicht mehr. Gehe ich also zuerst in die Wäscherei, in den Supermarkt oder in den Kindergarten?“ – Handelt es sich um einen typisch weiblichen oder einen typisch männlichen Alltagsausschnitt beziehungsweise Teil einer Gedankenkette? Eine müßige Frage. Fünf Viertelstunden später ist Frau F. mit zwei Einkaufstüten, den grauen Anzug über dem Arm, zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter auf dem Nachhauseweg.

Wie die Alltagsqualität von Frauen wie Frau F. aussieht, ob ihr Alltag eher einem Hürdenlauf gleicht oder mühelosem Flanieren, wird auch von den stadträumlichen Strukturen beeinflusst. Ist ein Ganztageskindergarten in der Nähe? Sind seine Freiflächen genügend groß und attraktiv? Wie weit ist es zur Busstation, wie bequem ist der Weg dorthin? Wie oft fährt der Bus? Wie ist es um die Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe bestellt? Wie breit sind die Gehsteige, wie hoch ist die gefahrene Geschwindigkeit der Autos, wie lange sind die Grünphasen, wenn sie mit ihrer dreijährigen Tochter zu Fuß im Wohnviertel unterwegs ist? Handlungschancen sind nicht gleich verteilt. Angesichts steigender Bevölkerungszahlen, knapper werdenden Ressourcen und baulicher Verdichtungsprozesse verschärfen sich in vielen Städten konkurrierende Nutzungsansprüche und daraus resultierende Zielkonflikte.

Alltagsorientierung erhöht die soziale Wirksamkeit von Planung

Planende wissen, was für alle Menschen gut ist – das ist Teil ihres beruflichen Selbstverständnisses. Dieser Anspruch kann jedoch nicht eingelöst werden, ohne sich gezielt in verschiedene Schuhe zu stellen. Erfolg von Planung ist nicht leicht messbar. Ein wichtiges Kriterium ist die erzeugte Alltagsqualität. Dem Städtebau oder der Gestaltung von Gebäuden und des öffentlichen Raumes ist die Identifikation unterschiedlicher funktionaler Anforderungen immanent. Wenn dabei nicht der Bezug zu den variierenden Interessenslagen verschiedener Gruppen von Nutzenden hergestellt wird, bleibt Planung sozial „wirkungsblind“.

Im Mainstream gilt noch immer viel zu oft der gesunde, männliche Erwerbstätige als Maß aller Dinge. Der Klassiker ist der Modulor von Le Corbusier, auch der Neufert lieferte jahrelang viele Beispiele. Beim automatisierten Fahren führte die Kalibrierung an männlichen, weißen Gesichtern dazu, dass Frauen mit dunklerer Hautfarbe von den Programmen schlechter erkannt wurden. Ähnliches lässt sich für die mikroklimatischen Analysen feststellen, denen im Zuge des Klimawandels immer mehr Bedeutung zukommt: Ein wichtiger Bestandteil ist das subjektive Temperaturempfinden, nachmodelliert mit der Behaglichkeitsgleichung anhand eines 35-jährigen Durchschnittsmenschen, dem „Klima Michel“. Vergessen wurde dabei, dass das Temperaturempfinden von Frauen und Männern unterschiedlich ist und die Hitzebelastung im Alter steigt.

Die Genderbrille schärft den Blick

Viele Straßenabschnitte in der Wiener Seestadt Aspern sind dank der Wohnsammelgaragen autofrei, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Gender Planning als räumliche Spezifizierung der Gender Mainstreaming-Strategie bewertet Anforderungen und Auswirkungen von Planungen nach unterschiedlichen Lebenslagen, Lebensphasen und kulturellen Hintergründen und betrachtet dabei soziale Geschlechterrollen. Dieses systematische Abfragen zeichnet das sogenannte „Gender Plus Konzept“ aus. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf vulnerable Gruppen und die Care-Arbeit gelegt, die sonst auch in der Planung unsichtbar blieb.
Die Genderbrille erhöht die soziale Treffsicherheit. Damit entsteht ein wesentlich facettenreicheres Bild der Anforderungen an Stadträume. Ressourcen sollen gezielt im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit eingesetzt und strukturelle Schieflagen zumindest abgemildert werden. Es geht darum, die soziale Intelligenz der Planung zu schärfen. Das erfordert, soziale Belange in technische Kriterien zu übersetzen und die auch bei qualitätvollen Mainstream-Planungen definierten Gemeinwohlinteressen zu spezifizieren und bei Zielkonflikten zu berücksichtigen. Ihre Operationalisierung erfordert als Querschnittsmaterie die Übersetzung in handfeste Anforderungen und konkrete Kriterien: von der Masterplanung, der Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung bis zur konkreten Objektplanung und Projektierung.

Wo stehen wir derzeit?
Die Stadt Wien als Praxisfeld

Der Stadt Wien wird in vielen internationalen Rankings eine hohe Lebensqualität bescheinigt. Das hat mit naturräumlichen Gegebenheiten und historischen Entwicklungen, aber auch mit sozial orientierten kommunalpolitischen Weichenstellungen und einer damit korrespondierenden Planungskultur zu tun. Wien hat vor mehr als 30 Jahren mit Gender Planning im Sinne einer zielgruppenorientierten Strategie der Qualitätssicherung begonnen, noch bevor der Begriff existierte. Start war 1991 die Ausstellung „Wem gehört der öffentliche Raum – Frauenalltag in der Stadt“. Seither ist viel geschehen. Wien kann einiges an Planungspraxis in thematischer Breite und inhaltlicher Tiefe bieten. 60 Modell- und Leitprojekte, Pilotprozesse und neue methodische Zugänge umfassten Objektplanungen im Wohn- und Bildungsbau, die Beteiligung an der Qualitätsprüfung in der Wohnbauförderung, Platz- und Parkgestaltungen, Straßenneuprojektierungen und Umgestaltungen, Ampelschaltungen, Beleuchtungen sowie Mitwirkung bei städtebaulichen Quartiersentwicklungen. Im Pilotbezirk Mariahilf erfolgte eine vierjährige Begleitung der Planungsprozesse mit dem Schwerpunkt auf zu Fuß Gehende für den öffentlichen Raum. In vielen Wettbewerben wurde Genderexpertise eingebracht, gendersensible Beteiligungsverfahren wie bei der Umgestaltung des Reumannplatzes durchgeführt. Methodisch wurde ein einfach durchzuführender Fairness-Check entwickelt.

Das mediale Interesse an den Wiener Erfahrungen ist mittlerweile groß. Auch in anderen europäischen Städten wie Berlin, München, Freiburg, Zürich, Barcelona, Paris oder Umeå gibt es viele überzeugende Beispiele. Dennoch bleibt der Diskurs im Mainstream der Planungsfachwelt davon weitgehend unberührt, die Debatten zu Gender Planning werden nur in einem überschaubaren Zirkel fast ausschließlich weiblicher Fachleute geführt.

Stadtlabor Seestadt Aspern

Der Elinor-Ostrom-Park in der Wiener Seestadt Aspern bietet ein vielfältiges Spiel-und Sportangebot, auch für das Jugendzentrum im Vordergrund und den Bildungscampus links, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Die Seestadt liefert vielfältiges Anschauungsmaterial für Gender Planning und innovativen Mainstream. Hier zeigt sich die Gender-Relevanz einer sozial orientierten Planungskultur besonders deutlich. Die Seestadt Aspern ist mit 240 Hektar eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Hier sollen im Endausbau bis 2030 25.000 Menschen wohnen und 20.000 Arbeitsplätze entstehen. Das ehemalige Flugfeld wird seit einem internationalen Städtebau-Wettbewerb 2007 etappenweise entwickelt. Eine eigene Entwicklungsgesellschaft, die Wien 3420 AG, arbeitet eng mit der Stadt zusammen. In ihren Verträgen mit Bauträgern und Firmen werden diesen detaillierte Qualitätskataloge auferlegt. Bei der Entwicklung der Seestadt wurde die Genderperspektive immer wieder eingebunden, ob in der Jury und Vorprüfung von Wettbewerben oder in Workshops. Es kommen auch die bereits im Mainstream etablierten Qualitätssicherungsverfahren auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen zum Tragen, wie die Richtlinien für eine geschlechtssensible Park- und Spielplatzgestaltung und die Überprüfung der um Wohnbauförderung eingereichten Projekte nach Gender-Qualitätskriterien. Derzeit ist ungefähr ein Drittel des Gebietes fertiggestellt, schon 9400 Personen wohnen und 4000 Personen arbeiten dort. Der Autobesitz ist mit 225 PKW pro 1000 Einwohnenden ein sehr niedriger.

Planerische Herausforderungen aus Gendersicht

Die städtebauliche Qualitätssicherung für Wohnbau, soziale In­frastruktur und Freiflächen ist zu intensivieren. Sind hochwertige Freiräume im unmittelbaren Wohnumfeld vorhanden, ob öffentlich zugänglich oder am Baufeld selbst? Das betrifft auch Kindergarten- und Schulfreiflächen. Ihr Raumerlebnis wird neben ihrer Größe auch von Zuschnitt, Höhe und Lage der umgebenden Gebäude bestimmt. Ist ein ausgewogenes Verhältnis von Sonne und Schatten möglich? Die Notwendigkeit des Straßenraums als Ausgleichsflächen in (zu) dicht bebauten Bestandsgebieten ist bei Nachverdichtungen evident.

Durchgesteckte Wohnungen ermöglichen Durchlüftung und Sonnenlicht zu verschiedenen Tageszeiten, ihre ausreichende Belichtung im Inneren erfordert entsprechende Trakttiefen. Die gezielte Stellung der Gebäude und das Freihalten von Sichtachsen beeinflussen Ausblickmöglichkeiten. Wohnungsgrößen, Grundrisse, der Zuschnitt privater Freiräume, Lage und Ausstattung von Gemeinschaftsräumen, Abstellräume, gemeinschaftlich nutzbare Dachterrassen und Höfe: Wohnqualität hat viele Facetten. Die Ökonomisierung vieler Wohnungsgrundrisse erwies sich in coronabedingten Lockdowns als besonders problematisch. Wohnungen mussten zusätzlich Büro, Klassenzimmer, Spielplatz und Fitnessstudio sein. Am Küchentisch arbeiteten meist die Frauen. Es ist wichtig, beim Home-Office im Familienhaushalt auch eine Tür hinter sich schließen zu können, sei es im kleinen Zusatzraum oder im hauseigenen Coworking-Space.

Mitgestaltungsprozesse als Bottom-up-Prozesse können dazu beitragen, vielfältige Lebensperspektiven und Alltagszusammenhänge einzubeziehen. Aber auch hier gilt es, die Genderperspektive einzubeziehen und eine Voreingenommenheit in Bezug auf Alter, Herkunft und den sozialen Hintergrund zu vermeiden. Zudem stellt sich die Ressourcenfrage. Ein holistischer Blick im Verfahrensmainstream gelingt nur, indem solche spezifischen Bottom-up-Prozesse mit den Formulierungen gendersensibler Gemeinwohlinteressen verschränkt werden, die wiederum Top-Down zu erfolgen haben.

Wen schränkt die Klimakrise besonders ein? Was fehlt bei Hitze?

Der Durchgrünungsgrad einzelner Stadtgebiete ist meist sehr unterschiedlich. Hier korrespondieren oft die Wohngebiete der sozioökonomisch benachteiligten Gruppen mit von Grünflächenmangel geprägten Gebieten und urbanen Hitzeinseln. Personenbezogen betrifft Hitze in einem besonderen Ausmaß Kleinkinder, Ältere und damit jene, die für sie Sorge tragen, sowie Menschen, die im Freien arbeiten. Gerade unter den Älteren gibt es Hitzetote, ihre Zahl übersteigt bereits die Zahl der Verkehrstoten.

Der Hannah-Arendt-Platz in der Wiener Seestadt Aspern ist das „Herzstück“ der ersten Bauphase. Hier treffen viele Funktionen wie Nachbarschaftszentrum, Busstation, Einkaufsmöglichkeiten, Ärztezentrum und Gastronomie zusammen. So entsteht eine Stadt der kurzen Wege. Die Haupterschließungsstraßen bieten zudem viel Platz für Fußgänger und Radfahrerinnen, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Beschattete altersgerechte Sitzgelegenheiten, Trinkbrunnen in regelmäßigen Abständen, das gehört bei Hitzetagen für besonders vulnerable zu Fuß Gehende zu den Mobilitätsvoraussetzungen. Insbesondere Alleen sorgen mit mikroklimatisch wirksamen Kronenschluss für eine effektive Abkühlung. Von einem solchen „hitzetauglichen grünen Wegenetz“ sind die meisten Städte aber noch meilenweit entfernt. In der Bestandsstadt lässt sich aufgrund der Lage technischer Einbauten meist nur die Parkspur ohne hohen Kostenaufwand mit Bäumen bepflanzen. Die Abschaffung des Straßenparkens wäre in vielerlei Hinsicht vorteilhaft: Parkplätze stehen klimaverträglicheren Verkehrsarten, Baumpflanzungen und Bodenentsiegelung im Weg. Nicht nur Mauern und Asphaltbeläge strahlen in der Nacht, sondern auch die Autos. Baumschatten sollte insbesondere jenen zugutekommen, die zu Fuß gehen, mit dem Rad fahren, auf den Bus warten, dort sitzen – und nicht parkenden Fahrzeugen. Solch naheliegende Lösungen werden aber oft von der Politik als zu radikal angesehen, die fürchtet, dafür bei den Wahlen abgestraft zu werden.

Es gibt seitens der Jugend berechtigte Erwartung auf eine generationenübergreifende Solidarität für die dringend notwendigen Maßnahmen. Der rasche Umstieg auf die postfossile Gesellschaft und Anpassungen an den Klimawandel sind notwendig.

Was ist bei der Klimawandelanpassung zu tun?

Der dringend erforderliche Wandel ist voranzutreiben und zu moderieren, um das noch verbleibende Zeitfenster zur Bewältigung der Klimakrise zu nutzen. So wie Ende des 19. Jahrhunderts männliche Ingenieure mit technischen Infrastrukturen das Stadtsystem tiefgreifend umformten, ist jetzt eine mindestens ebenso radikale Transformation erforderlich. Diesmal aber unter entsprechender Beteiligung von weiblichen Expertinnen, mit transdisziplinären Zugängen und unter Einbeziehung vielfältiger Gruppen und ihrer Alltagszusammenhänge.

Naturerlebnis in der Stadt – für die Nachbarschaftsgärten gibt es bereits Wartelisten, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Bei Beteiligungsverfahren äußern insbesondere Frauen immer wieder den Wunsch nach höherem Grünflächenangebot und vermehrtem Naturbezug. Dem sollte endlich der entsprechende Stellenwert gegeben werden. Es braucht beides: große Parks, die Naturerlebnis und Bewegungsfreiheit ermöglichen, und Grätzelparks (ein Grätzel ist ein Teil eines Wohnviertels, Anm. d. Red.), die maßgeblich soziales Kapital in der Nachbarschaft generieren. Im dicht bebauten Bestandsgebiet sind Baulückenparks, Dachgärten und die Straßenumgestaltung als Freiraumoption zu forcieren. Auch für die Neuorganisation der städtischen Mobilität braucht es hier rasch den tatsächlichen Ausbau grüner Netze in Form einer radikalen Entsiegelung und „Aufforstung“ des Straßenraums im Schwammstadtprinzip, um die Überlebensfähigkeit der Bäume sicherzustellen. Insgesamt haben Straßenquerschnitte neue Mobilitätsformen und die Anforderungen des Regenwassermanagements zu berücksichtigen.

Für die notwendige Neuorganisation von Wohn-, Arbeits- und Mobilitätsformen ist ein postmaterieller Lebensstil sowie Arte Povera für kostengünstige und kreative Lösungen in Hinblick auf Material- und Energieaufwand gefordert. Hier kann Europa viel von Planungskulturen und der Umsetzungspraxis ressourcenärmerer Länder lernen. Aus den laufenden Diskursen sind rasch handfeste Maßnahmen zu identifizieren. Die ganzheitliche Erfassung von Lebens- und Alltagswelten und Transparenz im Umgang mit Zielkonflikten könnte ihre Akzeptanz erhöhen und Unterstützungspotential freisetzen. Auch braucht es positive pragmatische Szenarien als Gegengewicht zu den vorherrschenden Verzichts- und Verlusterzählungen.

Mehr strukturelle Freiheit für Viele

Das Seeufer ist als Park gestaltet. Dem internationalen Wettbewerb für den Seepark lagen auch, wie bei den Wettbewerben für die anderen Parkanlagen, die Planungsempfehlungen für geschlechtssensible Park-und Spielplatzgestaltung zugrunde. Diese Empfehlungen beruhen auf der Evaluierung von sechs Modellprojekten, vier davon unter aktiver Mädchenbeteiligung, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Wer gewinnt Handlungsspielräume, wer erfährt Einschränkungen? Die gemeinschaftlich gestaltete Transformation der Städte birgt auch große Chancen und spielt den vulnerablen Gruppen in die Hände. Sozioökonomisch Schwache profitieren überdurchschnittlich vom Ausbau von Radwegen und dem öffentlichen Verkehr, von verbesserten Angeboten und kürzeren Reisezeiten, körperlich Eingeschränkte von Barrierefreiheit. Sichere Straßenräume, das Freihalten von Frischluftschneisen und die Erweiterung des Grünflächenangebots erhöhen das Bewegungs-, Spiel- und Erholungsangebot und erweitern die persönliche Autonomie. Begleitmobilität wird reduziert. Freiräume sind als das grüne Rückgrat der Stadtentwicklung anzusehen. Neue Indikatoren für Qualitätsmessung in den Quartieren sind zu entwickeln. Ab welchem Alter sind Kinder allein im Stadtviertel unterwegs, wie hoch ist der Außer-Haus-Anteil der über 75-Jährigen? Wie lange können sich Personen mit beginnender Demenz noch gut im Stadtraum orientieren? Das sind Indikatoren, die einiges über den stadtstrukturellen Freiheitsgrad aussagen.

Es gilt, den Handwerkskasten der Planung durchzusortieren. In welchen Instrumenten und Normsetzungen sind einseitige Kalibrierungen verborgen, was ist angesichts der neuen Fragestellungen überhaupt noch nützlich, was gilt es neu zu justieren, was fehlt? Es lohnt, die reiche Geschichte der feministischen Planung (wieder) zu entdecken und sich bei den zahlreichen Arbeitshilfen und good practice-Beispielen zu bedienen, die durch Gender Planning seit vielen Jahren erarbeitet wurden. Hier sei stellvertretend auf das Handbuch der Stadt Wien „Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung“ verwiesen. Darin werden Ziele und qualitätssichernde Fragestellungen für die unterschiedlichen Themenbereiche und Planungsebenen aufbereitet und viele Methoden und Kriterienkataloge als „Methodenkoffer“ zur Verfügung gestellt. Eine Überarbeitung unter Klimaaspekten ist vorgesehen.

Fassadenbegrünung schränkt den Gestaltungsspielraum ein, nachträgliche Begrünungsversuche bei Gründerzeitfassaden sind oft wenig überzeugend. Das stellt eine neue architektonische Herausforderung dar. Hier sind aber auch Sehgewohnheiten und baukulturelle Normen zu hinterfragen: Sind Kinderspielplätze auf dem Dach in der Bestandsstadt eine Störung des Stadtbilds oder eine unverzichtbare zusätzliche Handlungsoption, um den Grünflächenmangel zu reduzieren, der durch die strukturell oft sinnvolle Nachverdichtung noch einmal verschärft wird? Umfasst das Angebot bei der Platzierung und Ausstattung von Mobilitätsstationen mehr als PKWs und Erwachsenenräder? Zu welchen Lasten geht der Flächenbedarf neuer technischer Aufbauten bei der Energiewende? Sind nur die begrenzten öffentlichen Grünflächen betroffen?

Mit Ausnahme des Nelson-Mandela-Platzes sind die personalisierten Straßennamen in der Seestadt nach weiblichen Politikerinnen, Architektinnen, Wissenschaftlerinnen benannt – auch das ist eine Form der symbolischen Aneignung des öffentlichen Raums und ein Beitrag zur Reduktion des Ungleichgewichts in der historischen Bestandsstadt, Foto: Luiza Puiu im Auftrag der 3420AG

Zwischen Gender Planning und Klimawandelanpassung gibt es viele Synergien. Wären die Forderungen, die feministische Planerinnen bereits vor 40 Jahren formulierten, stärker berücksichtigt worden, wäre nicht nur die Alltagsqualität höher, auch die Städte wären für die Klimakrise besser aufgestellt. Der holistische und differenzierende Blick, den Gender Planning als Spezifizierung und Präzisierung von Gemeinwohlinteressen bietet, erhöht die Freiheitsgrade von vulnerablen oder zeitlich stark belasteten Gruppen. Sozial nachhaltiger, postfossiler Stadtumbau ist als Chance zu begreifen. Die Planung sollte rasch einen systemischen Blick dafür entwickeln.

Eva Kail ist die Genderplanungsexpertin der Stadt Wien und initiierte und koordinierte Pilotprojekte in den unterschiedlichsten Themenbereichen. Sie ist in der Zwischenstadt „Transdanubien“ aufgewachsen, womit im Wiener Alltagsjargon der 21. und 22. Bezirk „jenseits der Donau“ gemeint ist – eines der am dynamischsten wachsenden Stadtgebiete. Sie wohnt seit vielen Jahren in einem bürgerlichen Hochgründerzeitviertel in einem innerstädtischen Bezirk und kennt daher den Alltag in unterschiedlichen stadttypologischen Zusammenhängen. Als Mutter zweier Töchter und durch die Pflegebedürftigkeit von Mutter und Onkel hat sie viel über Care-Arbeit und unterschiedliche Generationenperspektiven im Alltag gelernt.

 

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