Christian Holl

Kernbohrung

Gedanken zur Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe

Wer sich an den großen Schlagzeilen orientiert, könnte den Eindruck gewinnen, das Schlimmste sei vorüber. Der Sturm der großen Proteste scheint sich gelegt zu haben. Stuttgart 21 wird gebaut, auch wenn es nach wie vor große Risiken birgt. Die Häuser im Hamburger Gängeviertel liegen nun in der Verantwortung einer Genossenschaft und sind damit in ruhigem Fahrwasser, auch wenn noch Genossen gesucht werden, um den Umbau zu stemmen. Der Protest um Fluglärm in Frankfurt hat abgenommen, auf dem Universitätsgelände in Bockenheim hat die Sprengung des AfE-Turms Anfang Februar Schaulustige angezogen und keine Proteste ausgelöst, auch weil 2012 in einem mehrwöchigen Beteiligungsverfahren ein Konsensplan erarbeitet wurde. Die Lektionen scheinen gelernt, Bürgerbeteiligungsverfahren werden früher, intensiver und professioneller durchgeführt.(1) Man weiß ein wenig besser mit Konflikten umzugehen. Auch wenn sie nicht immer gelöst werden können, werden sie doch oft immerhin so verhandelt, dass sie nicht nach der Entscheidung – durch gern als „Wutbürger“ diskreditierte Menschen – wieder in Frage gestellt werden.

Ist damit dem Bedürfnis nach Teilhabe Genüge getan? Hat sich der allgemeine Frust über die Politik im Allgemeinen, über Planungspannen und Defizite im eigenen Quartier im Besonderen ein Ventil gesucht, das man nun installiert hat, so dass man ansonsten weiter Planung betreiben und, wie bisher, weiter bauen kann? Ein wenig scheint es so, und das mag eine Weile gut gehen, man mag sich mit peinlichen Pannen zu arrangieren wissen – wie jener des Wettbewerbs für die Rhein-Main-Hallen in Wiesbaden, wo eine aufgeschreckte Politik sich zu einer methodisch fragwürdigen Bürgerbeteiligung nach dem Wettbewerbsentscheid hinreißen ließ, um am Ende dem Wettbewerbssieger den Laufpass zu geben. Man wird sich damit auseinandersetzen, dass sich in Bürgerbeteiligungsverfahren auch Interessengruppen und Lobbyisten mit nicht unerheblichen Ressourcen einschalten, wie es in der Schweiz zu beobachten ist.(2)

Foto: Christian Holl

Die Ursachen für den Protest bestehen weiter
Auch ohne danach zu fragen, inwiefern Planer und Architekten damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden: Gefährlich ist die Strategie, auf die Qualität der Routine zu setzen allemal. Routinen sind notwendig, weil sie entlasten: Sie erlauben, mit einem erprobten Instrumentarium auf eine alltägliche Situation zu reagieren – eine Situation also, „die sich oft in so ähnlicher Form wiederholt, dass wir uns schon aus kraftökonomischen Gründen nicht mit ihrer Einmaligkeit (die sie in einem Teil ihrer Gegebenheiten natürlich trotzdem besitzt) befassen.“(3) Diese Qualität ist gleichzeitig die Schwäche der Routine: Gerade weil sie nicht jedes Mal nach der Eignung für die Bewältigung einer Situation fragt, ist sie blind für die Erkenntnis, dass sie es nicht (mehr) sein könnte.

Sie ist blind dafür, dass erhebliche Unterschiede die unterstellte Ähnlichkeit mit anderen Situationen in Frage stellen könnten. Es ist also ratsam, nicht vorschnell Routinen aufzugreifen, wenn berechtigte Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit erkennbar sind. Das ist in der Frage des Unmuts von Bürgern mit Planung und Architektur ganz offensichtlich der Fall. Denn die Ursachen, die zu den vehementen Protesten geführt haben, sind nicht aus der Welt. Weiterhin ist in den Städten, wenn auch nicht auf spektakuläre Weise, dann doch regelmäßig Widerstand gegen Planung auszumachen: gegen Windräder ebenso wie gegen Stromtrassen, oder gegen Abriss – wie etwa in Hamburg die Esso-Häuser, wo einmal mehr eine auf Renditeerwartungen und Partikularinteressen konzentrierte Stadtpolitik exemplarisch wird. Ein Beitrag über die Stadterneuerung in Duisburg-Bruckhausen im WDR ist überschrieben mit „Die ham uns kaputt gemacht.“(4)

Foto: Christian Holl

Die anhaltende Angst vor Vertreibung durch Gentrifizierung ist in allen Städten mit angespannten Wohnungsmärkten virulent, die sozialräumliche Segregation als Folge der zunehmenden Einkommensspaltung – Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit – bleibt ein unberechenbarer Faktor für den Erhalt des sozialen Friedens. Und so ist es kein Wunder, dass den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung auf lokaler Ebene nach wie vor die Ratlosigkeit im Umgang mit – sei es auch nur befürchtetem – Protest anzumerken ist. Denn es ist nicht leicht auszumachen, in welchen Anteilen sich der Verdruss mit den eingeschliffenen Abläufen der lokalen oder überregionalen Politik in den Movens des Protestes mischen: die weiterreichenden Ursachen der Verdrossenheit sind durch die Angelegenheit, die konkret verhandelt wird, nicht aus der Welt zu schaffen.

Eine genuin städtische Praxis
Wenn Architekten und Planer hoffen, dass diese Entwicklungen sie nicht betreffen mögen, stellt sich nicht nur die Frage danach, ob dies der Verantwortung, die sie tragen entspricht, sondern auch, ob dieses Verhalten nicht doch eine riskante Strategie ist. Es ist zunächst zumindest erstaunlich, weil es hier um ein Verhalten geht, das typisch für die Stadt ist. Gerade die Form von Protest, mit der man es in diesen vielfältigen Erscheinungen zu tun hat, ist eine genuin städtische Praxis. Es geht darum, etwas zugespitzt für ein Publikum sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bliebe. Die Stadt ist zu groß und zu komplex, als dass über direkte Ansprachen Anliegen formuliert und zuverlässig den Adressaten finden könnten – die Inszenierung ist deswegen Teil eines medialen Prozesses, der für die Stadt konstituierend ist und in dem die Stadt selbst Medium werden kann, wenn das, was in der Inszenierung sichtbar gemacht wird, auf einen überstädtischen Kontext zielt. So wird auch die Dynamik mancher Prozesse verständlich: Sie entsteht, weil es für einen Moment tatsächlich gelingt, Wahrnehmbarkeit überhaupt herzustellen; das wirkt ermutigend und erhöht wiederum die mediale Wirkung.

Dabei dient die Inszenierung nicht nur der Ansprache, sondern auch dazu, Gleichgesinnte zu finden: Das Publikum ist nämlich nicht nur eine durch Medien informierte Öffentlichkeit – zu ihm gehört auch die potenziell eigene Szene, denn innerhalb der eigenen Gruppe inszenieren sich deren Mitglieder voreinander.

Foto: Christian Holl

Animal Symbolicum
Es wäre eine merkwürdige Haltung, solche gesellschaftlichen Entwicklungen nicht auf das eigene Tun zu beziehen. Denn das hieße, eine grundsätzliche Qualität von Gestaltung, ein ureigenes Potenzial von Architektur nicht zu erkennen. Wer, wenn nicht Städtebauer und Architekten, sollte wissen, dass der Mensch ein „animal symbolicum“ ist? „Dass der Mensch in einer Symbolwelt lebt, gehört zu seinen eigenen Prämissen“, so Gerhard Hard(5) – und Architektur, die mehr als Bedarfsdeckung ist und sein will, erfüllt genau dies: Sie wird mit Bedeutungen aufgeladen, die mehr aussagen als das, was ihre unmittelbare Funktion ist.

Architekten und Stadtplaner müssten sich in der Bedeutung ihrer Profession bestätigt sehen, gerade weil diejenigen Projekte am meisten Protest mobilisieren, die exemplarisch für größere Zusammenhänge stehen, die prinzipielle Entwicklungen handhabbar machen. Projekte wie Stuttgart 21 oder der Konflikt um das Hamburger Gängeviertel sind dann ein Kristallisationspunkt eines sonst nicht lokalisierbaren Unbehagens, das sich nun im Projekt verorten lässt. Darin zeigt sich, dass Architektur und Städtebau gerade in der Frage nach den Binnenverhältnissen der Gesellschaft zutiefst symbolisch sind – und dass diese Eigenschaften zu ihrem Wesen gehören.

Zur Architektur gehört, dass sie „symbolische Form der Welt- und Selbstaneignung ist”(6), zur Stadt, dass sie bildhaft für das steht, wie wir uns selbst und unsere Umwelt deuten – darin ist das Bild mehr als ein zweidimensionaler Abzug einer komplexen räumlichen Wirklichkeit. Proteste können also auch mit einiger Berechtigung als Hinweis auf die gleichzeitig unterschätzte Bedeutung von überforderndem Anspruch an Architektur und Städtebau gelesen werden. Beide repräsentieren, welche Vorstellung wir von Gesellschaft und davon haben, wie wir miteinander umgehen wollen. Sie reflektieren, wie die Stadtgesellschaft mit für sie essentiellen Konflikten umgeht, sie stehen für ein Ganzes, dass sich jenseits ihres Einflusses vollzieht, das sie dennoch repräsentieren. Und genau hier müssen Architekten aktiv werden und auch für eine faire Politik werben, weil sich eine andere gegen die Architektur richten kann. Gute Architektur hilft niemandem, wenn sozialer Friede nicht spürbar eingelöst wird.

Foto: Christian Holl

Offene Bedeutungszuweisung
Dabei geht es nicht um einen erzählerischen Fassadismus – die Bebauung der Neuen Straße in Ulm zeigt deutlich, dass auch dezidiert moderne Architektur in unmittelbarer Nachbarschaft zu den historischen Bauten von Münster und Rathaus als Abbild gesellschaftlichen Einverständnisses akzeptiert wird, wenn es, wie in Ulm, dieses Ringen um das gesellschaftliche Einverständnis tatsächlich gegeben hat. Vermutlich liegt hier ein Grund dafür verborgen, dass die Qualität von Architektur und wie sie gesellschaftlich gedeutet werden kann, übersehen wird: sie ergibt sich nicht notwendigerweise aus den ästhetischen Qualitäten, sie ist nicht der Form zwingend inhärent. Zudem gehört es ebenso zur Qualität von Architektur, dass sie im Verlauf ihres Bestehens neue Potenziale der Deutung eröffnet.

Daraus ergibt sich eine weitere Konsequenz, die sich Architekten und Stadtplanern stellt: dass sie ihr Sensorium für die unterschiedlichen Bedeutungen von Architektur öffnen müssen, dass sie mehr anzubieten haben müssen als eine beliebig vermehrbare Anzahl von Varianten aus den immer gleichen Elementen Block, Zeile und Punkt, von einem Formenrepertoire, das sich an den ästhetischen Vorlieben von Mittel- und Oberschicht orientiert. Dies anzuerkennen hieße, anzuerkennen, dass sich Architektur der Kontrolle über den Umgang mit ihr entzieht – das muss Architekten schwerfallen. Architektur macht das aber ohnehin.

Anmerkungen
1 Siehe beispielsweise die drei „Weißbücher zur Bürgerbeteiligung“ der Stadt Mannheim: http://www.konversion-mannheim.de/buergerbeteiligung/weissbuchprozess; Zugriff am 20. März.
2 So ist auch das Internetlexikon Wikipedia, oft als strahlendes Beispiel einer neuen Wissensgesellschaft auf Open-Source-Basis gepriesen, nicht unerheblich den PR-Aktivitäten großer Konzerne ausgesetzt – und damit ist noch kein Umgang gefunden. Siehe: Oppong, Marvin: Verdeckte PR in Wikipedia. Online unter http://www.otto-brenner-stiftung.de/otto-brenner-stiftung/aktuelles/verdeckte-pr-in-wikipedia-das-weltwissen-im-visier-von-unternehmen.html, Zugriff am 20.März 2014
3 Bahrdt, Hans Paul: Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens, München 1996, S. 145
4 http://www.wdr5.de/sendungen/neugiergenuegt/bruckhausen118.html, Zugriff am 20. März 2014
5 Öchsner, Thomas: Arme bleiben arm, Reiche werden reicher. Süddeutsche Zeitung vom 26. Februar 2014, online unter http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vermoegensschere-in-deutschland-arme-bleiben-arm-reiche-werden-reicher-1.1898685, Zugriff am 20. März 2014
6 Hard, Gerhard: Städtische Rasen, hermeneutisch betrachtet – Ein Kapitel aus der Geschichte der Verleugnung der Stadt durch die Städter. in: Backé, B. / Seger, M. (Hrsg.): Festschrift Elisabeth Lichtenberger, Klagenfurter Geographische Schriften; Bd. 6; S. 29-52; Klagenfurt 1985

Dipl.-Ing. Christian Holl studierte Kunst und Germanistik in Stuttgart und Münster sowie Architektur in Aachen, Florenz und Stuttgart. Zwischen 1998 und 2004 war er Redakteur der db deutsche bauzeitung, seit Oktober 2004 ist er als freier Autor Partner von frei04 Publizistik. Nach verschiedenen Lehraufträgen in Darmstadt, Stuttgart, Wuppertal und Kaiserslautern war Holl von 2005 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart. Seit 2007 ist er Kurator und Mitglied im Ausstellungsausschuss der architekturgalerie am weißenhof, seit 2010 Geschäftsführer des BDA Hessen. Christian Holl lebt und arbeitet in Stuttgart und Frankfurt.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert