kritischer raum

Icon, Index und Symbol

Die Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog & de Meuron, Basel, 2001 – 2017

Vor mehreren Jahren prophezeite ein Sachwalter des Bauvorhabens Elbphilharmonie bei einer Besichtigung des noch nicht vollendeten Rohbaus, dass in der Annahme der zu erwartenden Symbolkraft des neuen Hauses schon bald niemand mehr über die gewaltigen Termin- und Preisüberschreitungen sprechen würde. „Hamburg braucht ein neues Symbol, und die Elbphilharmonie wird es werden“, war damals das Credo, das sich schon im ersten Jahr nach der Fertigstellung eingelöst hat.

Herzog & de Meuron, Elbphilharmonie, Hamburg 2001 – 2017, Foto: Sophie Wolter

Inzwischen ist das Gebäude eingeweiht, und die Spitze der HafenCity-Insel ist vom verlassenen Industriegebiet zu einem belebten Ort geworden. Tausende Menschen bewegen sich auch alltags um und in der Philharmonie. Nach etwas mehr als einem Jahr hat man fünf Millionen Besucher auf der Plaza, der bislang kostenlos zugänglichen Aussichtsebene des Hybriden, gezählt. Die Gründe für diesen Erfolg sind vielfältig: Der mediale Rummel, die Verheißung einer spektakulären Aussicht, die schiere Überwältigung angesichts der menschliches Vorstellungsvermögen stellenweise sprengenden Komplexität des baulichen Organismus, die außergewöhnliche Formgebung im Ganzen und im Detail.

Monumentalität, Komplexität und Detailform verstellen indes den Blick auf die unterschiedlichen Bedeutungsebenen, die die Architekten dem Bau unterlegt haben. Dem Entwurf der Elbphilharmonie liegt offenbar ein semiotischer Dreischritt zu Grunde, der – wie bei anderen Entwürfen von Jacques Herzog und Pierre de Meuron auch – eine Lesbarkeit des zeichenhaften Gebäudes auf verschiedenen Ebenen ermöglicht. Die analytische Zeichenlehre, die sich auch auf die Architektur anwenden lässt, unterscheidet dabei drei Betrachtungsebenen: die syntaktische, die nach dem bloßen Aussehen eines Dings fragt, den semantischen Aspekt, der die Bedeutung der einzelnen Elemente eines Dings analysiert, und die pragmatische Dimension, die den Zweck oder die Wirkung eines Dings in den Fokus nimmt.

Herzog & de Meuron, Elbphilharmonie, Hamburg 2001 – 2017, Foto: Maxim Schulz

Die syntaktische Ebene der Elbphilharmonie lässt in Kürze folgende Feststellungen zu: Auf dem ausgehöhlten, ziegelverkleideten Kaispeicher A von Werner Kallmorgen aus dem Jahre 1963, der den hohen, achtgeschossigen Sockel des Gebäudes bildet, sitzt über einem Einschnitt mit einer Umgangsgalerie, die das Geschoss der so genannten Plaza markiert, das quaderförmige Haupthaus der Philharmonie, das mit teilweise nach außen gewölbten, teils klarsichtigen, teils mattierten Glasscheiben verkleidet ist. Den Höhenabschluss bilden allseitig ausgeformte hahnenkammähnlich geschwungene Spitzen. Im Innern ist das Gebäude in den Bereich der Philharmonie, in ein Hotel, eine große Garage und einen weiteren, separierten Teil mit Eigentumswohnungen aufgeteilt, die jeweils separat erschlossen werden. Der Zugang zur eigentlichen Philharmonie ist nur über eine „tube“ genannte, leicht gebogene Rolltreppe möglich. Sie führt zur fast vollständig gläsern nach außen geschlossenen Plaza, von der aus Treppenskulpturen á la Piranesi in die Foyers führen, die dem Kleinen und dem Großen Saal mit seiner zeltartigen Dachkonstruktion vorgelagert sind.

Herzog & de Meuron, Elbphilharmonie, Hamburg 2001 – 2017, Foto: Iwan Baan

Insbesondere beim Großen Saal sind Ähnlichkeiten mit Scharouns Berliner Philharmonie unverkennbar, auch wenn Herzog & de Meuron deren Metaphorik als Tal zwischen Weinbergen nur formal übernommen haben: Genau wie dort entwickelt sich jedoch die eigentliche Poesie des Gebäudes jenseits der materiellen Erscheinung, nämlich auf der abbildenden, semantischen Betrachtungsebene, die inzwischen zu vielfältigen, aber unzulänglichen Assoziationen mit „Wogen“ oder „Segeln“ geführt hat. Der unvoreingenommene, aber assoziationsbereite Blick vermag indes im vertikal aufsteigenden Haupthaus der Elbphilharmonie mit seinem hohen Grad der Transparenz die Analogie zu einem Block gefrorenen Eises zu erkennen. Dabei unterstützen die wie angeschnitten wirkenden offenen Fensterwölbungen und die Bedampfung der planen Scheiben, die transparente ovale Flächen freilässt, diese Assoziation: Die Fenster lassen sich als Luftblasen lesen, die im gefrorenen Eis eingeschlossen oder an dessen Schnittkanten Leerformen hinterlassen haben. Die geschwungene Dachform wiederum scheint bei der hier vorgeschlagenen Lesart die bewegt gefrorene Oberfläche eines Gewässers zu repräsentieren, dem der Eisblock entnommen ist. Die flachen, flächendeckend auf dem Dach angebrachten Metallpailletten wirken dann wie Reif auf der gefrorenen Wasseroberfläche. Auch das Innere der Philharmonie mit den Foyers und Sälen lässt sich in seiner Erscheinungsform wie das organische Innenleben eines Eis gewordenen Meeresausschnitts lesen. Der Rolltreppenzugang durch den rötlich-erdfarbenen Speichersockel wäre dann ein Wurmgang durch das Erdreich, das die Erdlinge an die Oberfläche, auf den Boden eines phantastischen Seereichs führt.

Herzog & de Meuron, Elbphilharmonie, Hamburg 2001 – 2017, Foto: Iwan Baan

Das Bild, das für die Seehafenstadt Hamburg und die Lage des Bauwerks nahezuliegen scheint, erhält unter dem pragmatischen Aspekt der semiotischen Analyse eine weitere, entscheidende Dimension: Herzog und de Meuron haben dem Gebäude nicht allein eine indexikalische Bedeutung als Haus mit maritimer Anmutung und damit eine mehr oder minder ortsspezifische Bedeutung gegeben.
Die Zeichenhaftigkeit des Gebäudes ist nicht nur ikonisch oder indexikalisch begründet, wie es der syntaktischen und semantischen Interpretationsebene entsprechen würde: Es geht hier nicht vordergründig um die Abbildung eines Eisblocks mit seinem physikalischen und organischen Innenleben.

Eine weitergehende Interpretation enthüllt sich erst durch den pragmatischen Aspekt der semiotischen Betrachtung, der sich in diesem Fall als Symbol mit philosophischem Hintergrund ausdrückt: Der Architektur gewordene Eisblock ist nichts anderes als die vielfach versuchte, selten gelungene Verbildlichung des Schopenhauerschen Diktums, Architektur sei im besten Falle „gefrorene Musik“. Herzog und de Meuron haben in Hamburg die Idee, dass sich die im Innern des Bauwerks erzeugte Klangwelt in der erstarrten Form der Architektur fortsetzt, bis ins Detail der Ausstattung übersetzt, was sich beim sehenden Besuch erweist. Die Formulierung und öffentliche Sichtbarmachung dieser symbolischen Bedeutungsebene ist die eigentliche Leistung der Architekten beim Bau der Elbphilharmonie. Sie macht das Gebäude zu einem Schlüsselbau, der die linguistischen Ansätze der architektonischen Philosophie der Postmoderne in die Gegenwart transportiert und damit einen wichtigen Grundstein legt für ein neuerliches Nachdenken über die Architektur als Bedeutungsträger.
Andreas Denk

Fotos: Sophie Wolter, Thies Raetzke, Iwan Baan, Maxim Schulz, Michael Zapf, Oliver Heissner, Johannes Arlt

Herzog & de Meuron, Elbphilharmonie, Hamburg 2001 – 2017, Foto: Maxim Schulz

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert