Jörg H. Gleiter

Zeichen und Wunder

Beiträge zur Architektur als Bedeutungsträgerin

Die Architektur kombiniert nicht nur materielle Elemente zu räumlichen Dingen, die benutzt werden können, sie kombiniert dieselben Elemente zu wahrnehmbaren Dingen, die interpretiert werden können. Architektur ist immer auch Zeichen. So nehmen wir die meisten Dinge, die uns umgeben, wie Fenster oder Türen, nur als Zeichen wahr. Wir gehen in der Regel nur durch eine Tür eines langen Hotelkorridors, wir öffnen nur die wenigsten Türen oder nehmen sie in Benutzung durch andere wahr. So geht jeder Benutzung zunächst ein Akt der Wahrnehmung und Interpretation voraus, und oft bleibt es auch dabei. Es zeichnet die Architektur in besonderem Maße aus, dass in ihr Zeichen und Wirklichkeit oder Interpretation und Erfahrung aufs Engste aufeinander bezogen sind. Dem liegt die These zugrunde, dass Architektur so sehr eine Praxis der Zeichen wie eine der Funktionen ist.

Wäre es abwegig zu behaupten, dass der Architekt weniger Funktionen als Zeichen entwirft, nämlich Zeichen, die die Möglichkeit zum Gebrauch eines Dings anzeigen? Entwerfen heißt, die architektonischen Zeichen in ihrer Form, Materialität und situativen Bindung so zu kombinieren, dass sie Möglichkeiten anzeigen, etwas mit ihnen zu tun. So sind Zeichen nicht passiv, sondern Agenten, die uns veranlassen, etwas zu tun oder auch nicht. Sie sind dabei nicht nur eine Sache der Interpretation durch den Betrachter, sondern immer auch eine Sache des Umgangs mit ihnen im Voraus durch den Architekten.

Foto: David Kasparek

In der Architektur begannen die großen Debatten über und die Sensibilisierung für das Zeichen mit der aufkommenden Postmoderne in den 1960er Jahren. In den folgenden Jahrzehnten wurde, auf Grundlage des linguistic turn, besonders intensiv über Zeichen in der Architektur diskutiert. Mit der Postmoderne kehrten die Zeichen und mit ihnen die Sprache in die Architektur zurück, nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Abschaffung der klassischen Ornamente die Architektur eines ihrer wichtigen Medien der Kommunikation verloren hatte. Was damit einherging, dass mit dem Verlust der Sprache die Möglichkeit verloren ging, auf anderes, gerade Abwesendes Bezug zu nehmen und damit sich in einen größeren kulturellen, das heißt historischen oder theoretischen Kontext zu stellen.

Man kann zur Postmoderne stehen wie man möchte, aber ihr Verdienst ist, wieder für die Bedeutung der Zeichen in der Architektur sensibilisiert zu haben. Zeichen sind wichtig, weil sie immer etwas sind, was für ein anderes steht und damit meist für Dinge, die gerade nicht anwesend sind. Ohne Zeichen wäre die Welt sehr klein. Sie bliebe auf das beschränkt, was gerade anwesend ist und wahrgenommen werden kann. Zeichen und Ornamente, Figuren und Bilder, Typen und Modelle sind Zeichenformen, mit denen Architektur Bezug auf Dinge nehmen kann, die abwesend sind. Nur mittels Zeichen kann sich die Architektur in vielfältigen Bezug setzen mit anderen Zeiten oder anderen Orten. Ohne Zeichen gibt es keine Bezugnahme und keine Poetik, ohne Zeichen ist alles Gegenwart.

Andererseits geben Zeichen nicht nur zu denken, sondern stiften uns zu Handlungen an. Die Türklinke fordert uns auf, sie herunterzudrücken, die Treppe fordert uns auf, hinauf oder hinab zu steigen, während das Geländer uns auffordert, uns von ihm leiten zu lassen. Über ihren Zeichencharakter fordert uns die Architektur auf, etwas mit ihr und damit gleichzeitig etwas mit uns zu tun: Man kann von der Anstiftung zum Handeln sprechen oder, in der Terminologie der Semiotik, von der Affordanz der Dinge.

Entgegen oft geäußerter Meinung lösen Zeichen ja nicht nur kognitive Prozesse oder Handlungen aus, sondern auch Emotionen und körperliche, physiologische Reaktionen. Zeichen treten uns nahe, sie affizieren uns, können Angst oder Aggressionen auslösen, wie eine dunkle Fußgängerunterführung, oder beruhigend wirken und zu einer heiteren Stimmung anstiften. Eine rote Mauer oder ein schön geschwungener Handlauf können in uns Erinnerungen und Gefühle an lang Vergangenes hervorrufen. Interpretation, Assoziation und Erinnerung sind also keineswegs auf die intellektuelle Rezeption von Architektur beschränkt. Sie betrifft die ganze Bandbreite menschlicher Wirklichkeitserfahrung auf der kognitiv-rationalen, emotional-psychologischen und phänomenal-performativen Ebene von Architektur.

Zeichenhaftigkeit im Sinne von Repräsentation war schon immer einer der zentralen Aspekte von Architektur im Sinne von Baukunst. Umso mehr, als Monumentalbaukunst auf eine Kombination setzt von starker materieller Präsenz und zeichenhaftem Verweis auf Abwesendes. So spitzte die Baukunst schon immer die immanente Dialektik von Architektur aufs Äußerste zu, wo sie das Konkrete und Fiktive, Materialität und Zeichenhaftigkeit in eine Figur und eine Form einspannte. Ikonographie oder Stil war das bedeutendste Mittel für die Bezugnahme auf Abwesendes, was immer auch selbstreferentielle Anteile hatte, die zur Selbstvergewisserung der Architektur dienten durch die über die Jahrhunderte rituell wiederholte, immer wieder variierte große Erzählung der Architektur.

Fragen über Fragen, die die Zeichen in der Architektur, ihr Gemacht- und Gebrauchtwerden und ihre allgemeine kulturelle Funktion betreffen. Wie wird Architektur zum Zeichen? Welcher Voraussetzungen bedarf es, dass der Betrachter die Zeichen überhaupt lesen und verstehen kann? Dabei sind Zeichen vielfältige Quellen von Irrtümern, die auch produktiv sein können. Nur in besonderen Formen und Figuren und in besonderen Kontexten sind Zeichen unmissverständlich. In der Regel sind sie doppel- und mehrdeutig, in sich widersprüchlich und dialektisch. Wenn der Architekt also immer Entwerfer von Zeichen ist, so ist er durch den Umgang mit Zeichen nur einerseits Semiotiker, andererseits auch Dialektiker, Poet, Ironiker oder einfach Berichterstatter. Benötigen wir eine besondere Zeichentheorie der Architektur? Oder haben Architekten nicht immer schon zeichenhaft gearbeitet, auch ohne die neuesten Theorien der Semiotik von Roland Barthes, Algirdas Greimas, Ferdinand de Saussure, Charles S. Peirce oder Umberto Eco reflektiert zu haben?

Konkret stellt sich die Frage nach der Praxis der Zeichen im Übergang von Moderne zu Postmoderne, aber auch im Übergang von Postmoderne zum digitalen Zeitalter. Verändert sich der Zeichengebrauch in einer Zeit von Emojis und Kurznachrichten? Was wäre das Äquivalent zu den Kurznachrichten in der Architektur? Wie lässt sich die Grenze bestimmen zwischen bildhaften und architektonischen Zeichen, zwischen dem gebauten Zeichen und einem gemalten Zeichen eines Fensters? Aufgrund der Komplexität wäre es aber vermessen zu erwarten, dass diese Ausgabe umfassend das Thema behandeln kann. Es will Platz für Wunder lassen und die Sensibilität wecken – und dem Architekten die Augen öffnen für einen Aspekt der Architektur, der alles andere als nebensächlich ist.

Prof. Dr.-Ing. habil., M. S. Jörg H. Gleiter, Mitglied des BDA, war von 2005 bis 2012 Professor für Ästhetik an der Fakultät für Design und Künste an der Freien Universität Bozen. Seit 2012 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Architekturtheorie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Architektur (IfA) an der TU Berlin. Jörg H. Gleiter ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift, Herausgeber der Buchreihe „Architektur-Denken“ im Transcript Verlag und Mitherausgeber der Internetzeitschrift für Theorie der Architektur Wolkenkuckucksheim.

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