Tatort

Mehr Sein als Schein

Wieder suchen wir ein Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Lösungsvorschläge können per Post oder E-Mail (redaktion[at]die-architekt.net) an die Redaktion gesandt werden. Unter den Einsenderinnen und Einsendern der richtigen Antwort verlosen wir ein Buch. Einsendeschluss ist der 15. März 2022.

Der gesuchte „Tatort“ ist diesmal in einer Großstadt im Osten des Landes zu finden. Er liegt im Zentrum an einer stark frequentierten Allee in unmittelbarer Nachbarschaft zu den altstädtischen Sehenswürdigkeiten. Zu diesen hin ist auch eine gestalterische Steigerung des Ensembles festzustellen. Das Verlagshochhaus auf seiner anderen Seite ist der zweite Bezugspunkt – um dessen Dominanz im Straßenbild nicht zu gefährden, ist seine Bauflucht hinter eine Grünfläche zurückgesetzt. Das Gelände beherbergte einst die königliche Stallanlage, die im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde. Hofseitig findet man noch wiederaufgebaute klassizistische Gebäude in den Komplex integriert.

Foto: Theresa Jeroch

Der Neubau gliedert sich in drei Abschnitte, bestehend aus einem dreigeschossigen Kopfbau und zwei Industriehallen. Ersterer bildet den Eingangsbereich und zugleich findet hier die oben konstatierte gestalterische Steigerung ihren Höhepunkt. Dazu tragen nicht nur die großen kupferbeschichteten Fenster und der halbzylindrige Eckturm bei, der in Copilit, einer Art Profilbauglas, verglast ist. Auch die sich dezent vor ihm zum Plateau aufwölbende Grünfläche setzt einen Akzent. Die zwei daran anschließenden Fertigungshallen – die eine aus der Flucht zurückspringend und niedriger als die andere – kombinieren je einen Geschoss- und Hallenbau. Zur Straße hin zeigen sie eine massive Betonfassade, deren vertikale Gliederung durch eine feine Auffaltung der Fläche noch betont wird, die der Denkmalbericht auf eine speziell entwickelte „Krepp-Papier-Technik“ zurückführt. Abgesehen von einem schmalen Fensterband weist sie keine Öffnungen auf; die schattenlose Belichtung erfolgt hauptsächlich durch das Sheddach sowie rückwärtige Copilit-Verglasung. Von den verwendeten Materialien wurde erwartet, sämtlich weitgehend wartungslos und beständig zu sein.

Konzipiert wurde das Gebäudeensemble für die Nutzung, der es heute noch dient: Hier werden Illusionen geschaffen – bühnenreif. Projektierung und Bauausführung des Funktionsbaus erfolgte durch einen „bezirksgeleiteten volkseigenen Betrieb“ unter der Leitung zweier Architekten, die bis heute tätig sind. Zwei Jahre nach der Übergabe erhielt er den Architekturpreis der damals herrschenden Regierung, 2013 dann den Denkmalstatus. Trotzdem taucht er in den meisten Architekturführern, wenn überhaupt, als Marginalie auf. Das mag daran liegen, dass die einstige Residenzstadt noch immer wehmütig ihrer historischen, insbesondere im Krieg verlustig gegangenen Gestalt nachhängt und der „Moderne“ stets mit Misstrauen entgegentritt. Der „Tatort“ beweist einmal mehr, was diesem rückwärtsgewandten Streben alles zum Opfer fallen kann – sei es durch Vergessen oder Abriss. Obgleich also funktional der Kulissenproduktion verpflichtet, verhindert er äußerlich eine ebensolche in städtebaulicher Hinsicht. Um welchen Bau handelt es sich, wo steht er, wann ist er entstanden und wer zeichnet für den Entwurf verantwortlich?

Der Tatort in Heft 6 / 21 war das Hamburger Parkhaus am Rödingsmarkt von 1965, geplant vom Büro Sprotte & Neve unter Beteiligung des damaligen Werkstudenten Volkwin Marg. Gewinner des Buchpreises ist Claas Gefroi.

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