Buch der Woche: Home not Shelter

Offene Fragen

Wer sich die aktuellen Äußerungen der demagogisch auftretenden CSU-Spitze zu Gemüte führt, kann nicht anders, als sich zu wundern. Auf der einen Seite wird vom Generalsekretär der Partei rassistisch davon schwadroniert, dass integrierte Menschen aus dem Senegal, die hier ministrieren und Fußball im Verein spielen, „das Schlimmste“ seien, weil man „die nie wieder“ los würde, der Parteivorsitzende Horst Seehofer und sein eilfertiger Adlatus Markus Söder sprechen davon, dass die „Grenze der Belastbarkeit“ von Menschen und Staat „erreicht sei“ und gleichzeitig kündet Seehofer „nichts weniger als die größte Steuersenkung der Geschichte“ an. Soviel zur Grenze der Belastbarkeit.

Im vergangenen Jahr sind rund eine Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Prozentual auf die Gesamtbevölkerung verrechnet eine verschwindend geringe Zahl – wenngleich es sicher Kommunen gibt, die durch die Aufnahme der Flüchtlinge mehr als andere beansprucht wurden und werden. Mit der Mär der teuren Flüchtlinge räumen allerdings derweil ausgerechnet die Krankenkassen auf. Indes lehnen sich die Offiziellen rund um Innenminister Thomas de Maizière aus dem Fenster: die Flüchtlingszahlen sind rückläufig, das Problem mithin gelöst, erste Rufe nach dem doch eigentlich ganz tollen Dublin-II-Abkommen werden wieder lauter… Das Problem dabei ist: Die sogenannte „Flüchtlingsfrage“ ist bei weitem nicht gelöst. Mit mehr als fragwürdigen geostrategischen Mitteln hat man sie sich hierzulande nur vom Hals geschafft. Die Balkanroute ist zu, ein Deal mit der Türkei zur Rückführung von Flüchtlingen geschlossen. Die offenen Fragen dürfen Türken, Griechen, Libanesen beantworten. Inzwischen warten Zehntausende an den Küsten Nordafrikas auf die Chance, die Wagnisse der gefährlichen Überfahrt gen Europa anzutreten.

Das „Problem“, die „Flüchtlingsfrage“, besteht also weiterhin. Dass darin – neben allen bekannten Schwierigkeiten – auch Chancen liegen, hat die hochschulübergreifende Initiative „Home not Shelter!“ als Aufgabenstellung aus der Perspektive von Architektur und Stadtplanung bearbeitet. Entstanden sind Raumkonzepte, die den komplexen Anforderungen einer zunehmend diversen Gesellschaft gerecht werden sollen. Exemplarisch stand dabei die Frage im Mittelpunkt, ob gemeinschaftliche Wohnformen von Flüchtlingen und Studierenden – sowie hybride Typologien – solch neuartige Räume im Sinne einer Open City sein könnten.

Projektbeteiligte sind die Hans Sauer Stiftung München als Träger, die Jade Hochschule Oldenburg vertreten durch Hans Drexler, die TU Wien vertreten durch Alexander Hagner, die TU München vertreten durch Sophie Wolfrum sowie die TU Berlin vertreten durch Ralf Pasel. Zudem beteiligt sich als Partner Jörg Friedrich von der Universität Hannover.

Zu Beginn des Buches kommen Flüchtlinge selbst zu Wort. Es sind nur fünf Statements von vier Syrern und einem Afghanen, aber sie machen in ihrer Kürze und Prägnanz deutlich, um was es geht: um Wohnen. Wohnen als menschenwürdiges Gut, Wohnen als Grundrecht. All das liegt nun in gedruckter Form vor: „Home not Shelter! Gemeinsam leben statt getrennt wohnen“, von den Autoren Ralf Pasel, Alexander Hagner, Hans Drexler und Ralph Boch – erschienen im Jovis-Verlag.

Die Initiative „Home not Shelter!“ will mehr als architektonische Alternativen zur immer noch omnipräsenten Traglufthalle und wahllos in die Gewerbegebiete gewürfelter Containerbauten. Den Machern geht es um die Bereitstellung von Räumen zum Austausch und zur Interaktion auf allen Maßstabsebenen – von der Wohnung bis hin zum Stadtraum –, und um Fragen nach neuen räumlichen Konfigurationen unserer Städte, Häuser und Wohnungen. In den Sozialwissenschaften heißt das dann Inklusion. Dafür haben Pasel, Hagner, Drexler und Boch eine Charta aufgesetzt. Die hier festgelegten Leitprinzipien tragen alle in der Initiative versammelten Projekte. Es geht dabei um „Dichte und Urbanität“, „Privatheit und Offenheit“, „Adaptivität und Flexibilität“, „Mischung und Hybridisierung“, „Kontakt, Austausch und Zugänglichkeit“, Partizipation und Kollaboration“, „Wertigkeit und Leistbarkeit“ sowie um „Gestaltungsanspruch und Entwurfsqualität“ – mithin ein „ganzheitliches Selbstverständnis“.

Mittels eines QR-Codes lässt sich ein eindrücklicher Film abrufen, der vom positiven Geist des Aufbruchs des letzten Jahres zeugt. Es folgen kurze Berichte von Workshops und Treffen, auf denen Strategien festgelegt und Ideen gesammelt wurden. Den größten Teil des Buches bildet eine Vielzahl interessanter Entwürfe der Studierenden der beteiligten Hochschulen, die mehr sind als hochglänzende Wohnarchitekturen. Hier werden Prozesse mitgedacht, Gemeinschaft und Miteinander werden zum Ausgangspunkt des Handelns. Wer sich diese Visionen eines Wohnens für alle ansieht, kommt rasch zu dem Schluss, dass die Vorurteile, die dem Gelingen dieser hehren Ziele entgegengebracht werden, vor allem mit einer Generationenfrage verknüpft sind.

Warum nun ist dieses Buch wichtig? Weil die noch offenen Fragen nach wie vor nicht beantwortet sind, weil es zu viele gibt, die behaupten, wir müssten sie nicht mehr beantworten – und weil die Migrationsbewegungen derzeit erst ihren Anfang nehmen. All die, die wegen des Klimawandels zum Umzug gezwungen sein werden, kommen nämlich erst noch.

David Kasparek

Ralf Pasel, Alexander Hagner, Hans Drexler, Ralph Boch: Home not Shelter! Gemeinsam leben statt getrennt wohnen, 144 S., ca. 125 Abb., Broschur, deutsch, 22,– Euro, Jovis Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-86859-447-8

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Ralf Pasel, Alexander Hagner, Hans Drexler, Ralph Boch: Home not Shelter! Gemeinsam leben statt getrennt wohnen, 144 S., ca. 125 Abb., Broschur, deutsch, 22,– Euro, Jovis Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-86859-447-8

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