Buch der Woche: Europäische Stadtplätze des 21. Jahrhunderts

Platz machen

Noch in den 1980er Jahren gingen Fachleute davon aus, dass Fernsehen und die langsam aufkommenden Ideen von Computern und Internet das Interesse an öffentlichen Räumen in der Stadt sinken lassen werde. Die autogerechte Stadtplanung der Jahrzehnte zuvor hatte zudem dazu geführt, dass viele Plätze in europäischen Städten fast ausschließlich dem Automobil vorbehalten, nur mehr zum Parken genutzt und damit zur Abstellfläche privaten Eigentums inmitten der Öffentlichkeit verkommen waren. Fast zeitgleich haben aber viele nord- und mitteleuropäische Kommunen die räumlichen Qualitäten ihrer Plätze wiederentdeckt, Außengastronomie begann selbst in Deutschland zu boomen, Märkte fanden wieder statt, Plätze wurden zum abendlichen Treffpunkt. Eine Entwicklung, die seitdem von unterschiedlichen Triebfedern vorangetrieben wird. Neben der Erkenntnis, dass es Städten auch wirtschaftlich gut tut, Autos aus zentralen Bereichen weitestgehend zu verbannen und eine konkrete Verkehrswende zu betreiben, waren es vor allem die Wiederentdeckung kultureller und anderer gemeinschaftlicher Aktivitäten und der Ruf nach Antworten zum Umgang mit dem menschengemachten Klimawandel, der diese Tendenzen untermauerte.

vetschpartner Landschaftsarchitekten, ein „Repräsentativer“: Sechseläutenplatz, Zürich 2014, Foto: Manuel Bauer / Agentur Focus

vetschpartner Landschaftsarchitekten, ein „Repräsentativer“: Sechseläutenplatz, Zürich 2014, Foto: Manuel Bauer / Agentur Focus

Diese und andere Faktoren sorgten für ein Umdenken, das sich seit der Jahrtausendwende an vielen Orten in gebauten Ergebnissen niederschlägt. Hilde Barz-Malfatti, bis 2019 Professorin für Entwerfen und Stadtarchitektur an der Bauhaus-Universität in Weimar, und Stefan Signer, ebenfalls bis 2019 am gleichen Lehrstuhl als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig, haben nun im Weimarer Verlag M BOOKS ein fein gestaltetes Buch vorgelegt, das 32 Stadtplätze aus 16 europäischen Ländern zeigt. Für „Die neue Öffentlichkeit“ haben die beide mit Hilfe von Studierenden und einer in mehreren Seminaren erprobten Analysemethodik europäische Stadtplätze zusammengetragen, die allesamt in den ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts gestaltet oder neu angelegt wurden.

Clemens Kirsch Architektur mit Gerhard Nestler, ein „Vermittler“: Stephansplatz, Wien 2017, FCP, Foto: Hertha Hurnaus

Clemens Kirsch Architektur mit Gerhard Nestler, ein „Vermittler“: Stephansplatz, Wien 2017,
FCP, Foto: Hertha Hurnaus

Das Buch liest sich wie eine Beispielsammlung für die Kraft des gestalteten Raums. Stadträume, die zum Impulsgeber für die Entwicklung ganzer Quartiere werden, solche, die in Zeiten zunehmender Wetterextreme in Folge des Klimawandels Puffer gegen Hitze oder Überschwemmungen sind, als Knoten in einem sich wandelnden Verkehrskonzept dienen und schlicht jene, die nach einem tristen Dasein als Parkplatz endlich wieder Gemeinschaft ermöglichen. Eingeteilt haben Barz-Malfatti und Signer diese Räume in acht Kategorien: die Repräsentativen, die Verteiler, die Impulsgeber, die Wohnzimmer, die Resilienten, die Vermittler, die Bildhaften und die Aktiven.

Dank der stringenten Methodik bekommen diese unterschiedlichen Kategorien eine Vergleichbarkeit. Einem großen Aufmacherfoto folgt stets ein großmaßstäblicher Schwarzplan nebst Erläuterungstext und Projektdetails, ein detaillierter Aufsichtsplan, eine Einordnung zur Gestalt mit Schnittzeichnung und Abwicklungen der raumbildenden Fassaden, Fotos, Detailzeichnungen und ein Kurztext zur Ausstattung des jeweiligen Platzes – etwa mit Mobiliar oder Infrastruktureinrichtungen. Diese Stringenz macht die Platzgestaltungen selbst nachvollziehbar und das Buch an sich als ein lesenswertes zu einem aufschlussreichen Lehrstück über Stadt und Raum. Hilde Barz-Malfatti bringt die Relevanz des Themas bereits in ihrer Einführung auf den Punkt: „Die Zukunft unserer Städte wird in entscheidendem Maße anhängig sein vom Grad der urbanen Öffentlichkeit, die ihre Räume erlauben.“ Die letzten Wochen und Monate haben dies einmal mehr gezeigt.
David Kasparek

Hilde Barz-Malfatti und Stefan Signer: Die neue Öffentlichkeit. Europäische Stadtplätze des 21. Jahrhunderts, 384 S., 128 farb. und 315 s/w Abb. und Pläne, deutsch/ englisch, 58,– Euro, M BOOKS, Weimar 2020, ISBN 978-3-944425-12-2

Studio Vacchini mit Marco Azzola, ein „Bildhafter“: Piazza del Sole, Bellinzona 2000, Foto: David Valinsky

Studio Vacchini mit Marco Azzola, ein „Bildhafter“: Piazza del Sole, Bellinzona 2000, Foto:
David Valinsky

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