Buch der Woche:

Sörgels Welt

Rainer Schützeichel hat in einem aufwendigen, sehr gut bebilderten und ausgesprochen lesbar geschriebenen Buch seine Dissertation über Herman Sörgel (1889-1952) veröffentlicht. Die Arbeit zählt nach Schriften über August Schmarsow zu den ersten ausführlichen Monographien, die sich ausdrücklich dem Werk eines Raumtheoretikers widmen und damit die architekturbezogene Genese des Begriffs und des damit verbundenen Gedankengebäudes erhellen. Sörgel ist bisher vor allem als Planer des hypertrophen „Atlantropa“-Projekts  gewürdigt worden: Seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre – bis zu seinem Unfalltod 1952 – warb der Münchner für seinen Kontinente übergreifenden Plan, bei dem das Mittelmeer durch einen großen Damm mit einem Wasserkraftwerk bei Gibraltar vom Atlantik abgekoppelt werden sollte. Anschließend sollte sein Wasserspiegel um bis zu 200 Meter abgesenkt werden, um neues Siedlungsland zu gewinnen. Mit dem überschüssigen Wasser sollte die Sahara bewässert werden.

Herman Sörgel, Villa Liedemann, München 1923–1924

Es liegt auf der Hand, dass dieses spektakuläre Vorhaben bislang größere Aufmerksamkeit gefunden hat als Sörgels architekturtheoretische Schrift zur „Architektur-Ästhetik“. Dieses Buch hat überdies eine unglückliche Entstehungsgeschichte, weil der Publikation zwei abgelehnte Dissertationsvorhaben Sörgels vorangingen. Mit Druckausgaben 1918 und 1921, die als erster Band einer auf drei Bände angelegten, aber niemals komplettierten  „Theorie der Baukunst“ erschienen, gewann Sörgels erster Beitrag zu einer umfassenden „Architekturwissenschaft“, die sich am Räumlichen der Architektur orientierte, schließlich in den 1920er Jahren einigen Einfluss, bevor seine Arbeit fast in Vergessenheit geriet.  Zwar ist gesichert, dass Oswald Mathias Ungers das Werk kannte und exzerpierte, einer breiteren Leserschaft wurde es aber erst durch die Neuveröffentlichung im Gebrüder Mann Verlag 1998 zugänglich.

Herman Sörgel, Buchdeckel der dritten, erweiterten Auflage der Architektur-Ästhetik, 1921

Nicht nur die Entschlüsselung der komplizierten Editionsgeschichte ist ein Verdienst von Rainer Schützeichels Buch: Der Hauptteil der Untersuchung, dem unter anderem die Auswertung von Sörgels Nachlass im Deutschen Museum München zugrunde liegt, gilt der geistesgeschichtlichen Genese von seinem – vor allem in triadischen Begriffen angelegten – opus magnum: In der „Theorie der Baukunst“ versuchte Sörgel eine Unterscheidung von Malerei, Skulptur und Architektur, indem er zeigte, dass das spezifische „Flächen-, Körper und Raumempfinden in den drei bildenden Künsten eine fundamental verschiedene Rolle spielen“. Dabei bezog er sich in einem umgreifenden kulturtheoretischen Ansatz auf die aus der Phänomenologie abgeleiteten grundsätzlichen Reflexionsinstanzen des Auges, des Denkens und des Gefühls („das Optische, das Verstandesgemäße, das Seelische“), mit denen der Mensch Architektur wahrnehmen könne. Mit einer historisch abgeleiteten Raumtypologie belegte Sörgel schließlich die überragende Bedeutung der räumlichen Wahrnehmung im architektonischen und im städtebaulichen Entwurf. Rainer Schützeichel ist eine umfängliche Einbettung von Sörgels Denkansatz in den geisteswissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit gelungen – von Hegel über Fechner, Basch, Brinckmann und Ziegler bis Spengler. Deutlich werden dabei nicht nur die Abhängigkeiten von Sörgels Schrift, sondern auch deren Abgrenzung gegen einige Koryphäen seiner Zeit: Mit dem Postulat der Architektur als einer ausdrücklich „raummäßigen Kunst“ stellte Sörgel sich ausdrücklich gegen Adolf von Hildebrandts einflussreiche Schrift „Probleme der Form“ von 1893, der mit einer reliefhaften Auffassung des Raumes die phänomenologische Wirkung von Malerei, Plastik und Architektur grundsätzlich parallelisiert wissen wollte und auch gegen Heinrich Wölfflins wichtige „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ aus dem Jahre 1915, die der Architektur nur als Körper mit unterschiedlicher Wirkung Raum gab. Schützeichel stellt ausführlich und kompetent dar, wie Sörgel stattdessen aus vorangehenden raumtheoretischen und architekturästhetischen Ansätzen von August Schmarsow, Eduard von Hartmann, Theodor Lipps, August Bötticher, Karl Hocheder, Theodor Fischer und anderen schöpfte, um schließlich eine doppelte Konkavität der Raumumhüllung zu konstatieren. Dieses Prinzip der Bikonkavität, eines „Janusgesichts“ der architektonischen Wand zum Innen- wie zum Außenraum wurde schließlich der Kern von Sörgels eigenständiger Raumtheorie.

Herman Sörgel, Kulturplan, 1921

Vielleicht wäre es hier zielführender gewesen, eine Argumentationskette zu stärken, die von Gottfried Semper über Friedrich Theodor Vischer und Camillo Sitte zu Sörgel führt. Die kunst-, kultur- und architekturtheoretischen Arbeiten dieser gedanklichen Vorläufer und Anreger Sörgels haben kontinuierlich den Gedanken der Dominanz des Räumlichen in der Architektur genauso wie der Stadt zugespitzt. Sörgel begründete indes die bis dahin vor allem architektur- und soziologie-historisch belegte Annahme erstmals hinreichend phänomenologisch durch sein Postulat der Bikonkavität der Wand. Aus dieser wahrnehmungstheoretischen Betrachtung ergibt sich schließlich ein besonderer Wert der immer noch unterschätzten Raumtheorie Sörgels für den gegenwärtigen Diskurs über den architektonischen und den städtischen Raum.

Rainer Schützeichel: Die „Theorie der Baukunst“ von Herman Sörgel. Entwürfe einer Architekturwissenschaft, 366 S., 79,- Euro, Reimer Verlag, Berlin 2019.

Schließlich hat sich der Autor noch der Aufgabe unterzogen, auch das Nachleben der „Theorie der Baukunst“ zu erforschen: In der Zeitschrift „Baukunst“, die Sörgel Mitte der 1920er Jahre herausgab, versuchte er, Elemente seiner Kultur- und Raumtheorie am zeitgenössischen Architekturdiskurs zu überprüfen. Und in verstreuten Publikationen wie den „Denkwürdigkeiten im Bauen und Wohnen“, die er 1929 publizierte, bemühte sich der zunächst von Friedrich Ostendorffs spätklassizistischen Formvorstellungen geprägte Entwerfer, der sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre  zum globalen Raumplaner wandelte, um eine populäre Aufbereitung der Forderung nach einer Architektur als „raumgemäßer Kunst“ und argumentierte dabei oftmals äußerst polemisch gegen die zeitgenössische Architektur. Ein letztes Kapitel schließlich widmet sich dem Atlantropa-Projekt, bei dem Schützeichel insbesondere die Idee des Kugelraums beleuchtet, die Sörgel seit den 1910er Jahren faszinierte und der er bis in die 1940er Jahre anhing, als er eine „Atlantropa-Kugel“ für die Esposizione Universale di Roma entwarf, die jedoch wie vieles in seinem Leben nicht realisiert wurde.

Der umfangreiche Apparat der Dissertation umfasst erstmals einen kommentierten Werk- und Projektkatalog, ein Schriftenverzeichnis sowie ausführliche Literaturangaben. Rainer Schützeichel sei Dank: Viel mehr dürfte zu diesem Zeitpunkt über Herman Sörgel nicht herauszufinden zu sein. Das Buch ist die beste Grundlage für eine erneute Beschäftigung mit der gedanklichen Welt eines ungewöhnlichen Architekten und dessen Neubewertung aus heutiger Sicht.

Andreas Denk

Rainer Schützeichel: Die „Theorie der Baukunst“ von Herman Sörgel. Entwürfe einer Architekturwissenschaft, 366 S., 79,00 Euro, Reimer Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-496-01631-1.

Rainer Schützeichel: Die „Theorie der Baukunst“ von Herman Sörgel. Entwürfe einer Architekturwissenschaft, 366 S., 79,- Euro, Reimer Verlag, Berlin 2019.

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