Buch der Woche: Neue Standards

Thesenhaftes

„Die ‚Neuen Standards‘ geben keine Handlungsanweisungen vor.“ In seinem Vorwort zur Publikation „Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen“ stellt BDA-Präsident Heiner Farwick klar, worum es dem BDA mit der gleichnamigen, im Deutschen Architektur Zentrum DAZ Berlin laufenden, Ausstellung geht. Die Beiträge seien vielmehr als „Plädoyer für einen Perspektivenwechsel“ und als „Impulsgeber“ zu verstehen. Und so erhofft sich der BDA mit der von Matthias Böttger und Olaf Bahner kuratierten Schau einen Diskurs über die „Qualitäten des Wohnens“ anzuregen, der die „Spiel- und Denkräume“ jenseits bisheriger Standardvorgaben auslotet, so Farwick weiter. Ob das in der Ausstellung aufgeht, muss sicher jeder für sich entscheiden. Die zur Ausstellungseröffnung vorgestellte und im Jovis-Verlag erschienene Publikation darf das jedoch getrost für sich in Anspruch nehmen.

Deutlich werden hier keine Handlungsanweisungen zusammengetragen, sondern Möglichkeitsräume aufgezeigt. Die zehn Beiträge der Ausstellung finden sich im Katalog sogar etwas lesbarer wieder, als in der roten Wohnlandschaft, die das Setting der Schau im DAZ bildet. Matthew Griffin, Verena von Beckerath und Tim Heide, Jana Richter und Henri Praeger, Matthias Rottmann, Antje Osterwold und Matthias Schmidt, Gudrun Sack, Anne Kaestle, Sabine Pollak, Rainer Hofmann und Muck Petzet sind die Architektinnen und Architekten, die – teils in Teams – die Beiträge zu Ausstellung und Katalog verfasst haben. Allesamt auch Architekten, die sich in den letzten Jahren durch Gebautes an den Debatten um das Wohnen beteiligt haben.

Für die „Neuen Standards“ haben sie nun zehn Thesen aufgestellt: „Stadt verhandeln“ von Matthew Griffin ist ein Beitrag über Teilhabe an entwerferischen Prozessen, „Dichte als Möglichkeit“ von Tim Heide und Verena von Beckerath erkennt die Qualitäten, die in – vor allem funktionaler – Dichte liegen, „Wohnraum individuell ausbauen“ von Henri Praeger und Jana Richter lotet aus, wie weit man in der Reduktion des Ausbaustandards von Wohnbauten gehen kann, um die Kosten für Kauf oder Miete möglichst gering zu halten, „Monotonie ist Qualität“ von Matthias Rottmann fragt nach gestalterischen Vorteilen, die serielle Produktion mit sich bringen kann, Antje Osterwold und Matthias Schmidt lenken den Blick mit „Respekt vor dem Unspektakulären“ auf all die Dinge, die mit weniger Aufwand gestaltet und deswegen oft so wohlüberlegt und bereichernd sind, Gudrun Sack betrachtet „Das Unterschiedliche im Nebeneinander“, Anne Kaestle behauptet „Wer teilt, hat mehr“ und untersucht historische wie aktuelle Beispiele gemeinschaftlichen Cluster-Wohnens. „Denke nicht in Korridoren!“ fordert Sabine Pollak und beleuchtet die funktionale Erweiterung all jener Zonen, die ehedem als reine Erschließungs- und Zirkulationsflächen dem Wohnen nicht zur Verfügung standen. Rainer Hofmann baut „Gnadenlos Privat“ und erinnert an die Wichtigkeit des Aufscheinens individueller und mithin privater Spuren der Bewohner in den Bereichen des Öffentlichen und Muck Petzet ruft mit „Re-Standard“ die Erinnerung an eine Zeit wach, in der dank weniger stark ausdifferenzierter Standards Wohnbauten entstanden, die bis heute gut nutzbar sind.

Weniges davon ist wirklich neu, die Fragen aber, die dahinter stecken sind ebenso wichtig wie entwaffnend einfach: Warum ist vieles von dem, was hier angesprochen wird, heutzutage nicht mehr oder nicht ohne weiteres möglich? Die Antworten liegen mit den bestehenden hohen Anforderungen, dem fehlenden Mut vieler Bauherren, dem Zwang zur Rendite kommunaler Wohnbauunternehmen sowie den teils immensen Kosten für Grund- und Boden sicherlich auf der Hand, die Wichtigkeit, all das gerade jetzt zu hinterfragen, aber auch. Einige der Thesen ergänzen sich schön, andere haben große gemeinsame Schnittmengen, manche mögen sich in Details sogar widersprechen. Dem Gesamtreigen tut das jedoch keinen Abbruch.

Etwas unverständlich bleibt jedoch, warum in einer Publikation im Jahre 2016 Fragen nach Ökologie und Ressourcenschonung so gut wie gar nicht auftauchen. Immer wieder wird der Themenkomplex angerissen, zu einer These ist er jedoch an keiner Stelle ausformuliert. Das Thema Nachhaltigkeit, dank der Debatten der letzten Jahre schon ein wenig abgegriffen, wird etwas zu lapidar abgehandelt, in dem auf nachhaltige, weil flexibel nutzbare Wohnkonzepte verwiesen wird. Vor dem Hintergrund der Dringlichkeit des Problems ist das mehr als bedauerlich. Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und seine US-amerikanische Kollegin Julienne Stroeve vom National Snow and Ice Data Center in Boulder/Colorado etwa rechnen im Forschungsmagazin „Science“ derzeit am Beispiel des Fliegens eindrücklich vor, welche verhängnisvollen Einflüsse unser Lebenswandel auf die Umwelt hat: Für jede Tonne CO2, die irgendwo auf unserem Planeten emitiert wird – etwa durch das Triebwerk eines Flugzeugs – verschwinden drei Quadratmeter sommerliches Eis in der Arktis. Sich bei solchen Zahlen allein darauf zu berufen, dass Raumkonfigurationen auch in 100 Jahren noch nutzbar sind, oder optimierte Bauteile und technische Komponenten verbaut werden, erscheint da nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit.

Bemerkenswert am Katalog „Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen“ sind so vor allem die Interviews, die in deutlich konzentrierterer Form als in der Ausstellung nachvollziehbar werden. Etwa, wenn Gudrun Sack mit dem Berliner Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba über die Zusammensetzung heutiger Stadtgesellschaften spricht und die Notwendigkeiten, die sich für die Wohnbauten und öffentlichen Räume unserer Tage daraus ergeben. Oder wenn Matthias Schmidt und Antje Osterwold mit dem Regisseur Edgar Reitz den Begriff „Heimat“ diskutieren. Eine echte Bereicherung stellen außerdem die Essays dar, die der Publikation vorangestellt sind. Neben den Vorworten von Heiner Farwick, dem Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit BMUB, Gunter Adler, und den Kuratoren der Ausstellung wurden diese von BDA-Vizepräsident Kai Koch, der Soziologin Christine Hannemann und dem Ökonomen Guido Spars beigetragen.

David Kasparek

Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen, Herausgegeben für den Bund Deutscher Architekten BDA von Olaf Bahner und Matthias Böttger, 192 S., ca. 100 farb. Abb. und Plänen, Schweizer Broschur, 28,– Euro, Jovis Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-86859-454-6

Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen
Ausstellung: bis 22. Januar 2017
Mi–So 15.00–20.00 Uhr
Eintritt frei
Rahmenprogramm: Die „Neuen Standards“ werden debattiert:
24. November 2016, 19 Uhr, Neue Standards, Y-Table Talk I
8. Dezember 2016, 19 Uhr, Neue Standards, Y-Table Talk II
19. Januar 2017, 19 Uhr, Neue Standards, Y-Table Talk III
Deutsches Architektur Zentrum DAZ
Köpenicker Straße 48/49
10179 Berlin-Mitte
2. Hinterhof

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