Wolfgang Kaschuba

Aushandlungen

Der öffentliche Raum als Bühne

Was öffentlicher Raum heute bedeuten kann, unter den Bedingungen zunehmend globaler Erfahrungshorizonte, erleben wir gegenwärtig jeden Tag neu. Und wir werden dabei jeden Tag aufs Neue überrascht und irritiert durch die Unterschiedlichkeit, ja Widersprüchlichkeit dieser „öffentlichen“ Erlebnisse und Erfahrungen. Wie etwa am 3. Oktober 2016, dem Tag der deutschen Einheit, an dem Bundespolitiker und andere feierlich Gestimmte auf dem Weg in die Dresdner Frauenkirche Spießrutenlaufen müssen durch ein bedrohliches Spalier hasserfüllter, tobender Pegida-Anhänger – und die örtliche Polizei dies für eine legitime Form öffentlicher Meinungsäußerung hält. Wie am selben Tag in Berlin, wo sich junge Menschen an Stadtstränden und auf Kiezplätzen treffen, um an diesem freien und noch warmen Montagabend in ihren Party-Gemeinden zwischen Mitte und Kreuzberg mit Wegbier zu feiern. Oder wie ebenfalls an jenem Montag in Hamburg, wo die Moscheen ihre Türen öffnen, um Einheimischen wie Flüchtlingen diese religiösen Räume näher zu bringen: als eine besondere Öffentlichkeit für Gebete wie Gespräche nicht nur der Gläubigen.

Ist das alles noch öffentlicher Raum? Wenn jeder dort offenbar alles und zu beliebigen Zeiten tun darf: pöbeln und demonstrieren, musizieren und feiern, beten und reden, trinken und essen? Aggressiv oder friedlich, allein für sich oder auch zu tausenden? Spielen Regeln und Ordnungen, Funktionen und Traditionen, Orte und Gebäude als vertraute Texte eines gemeinsamen lokalen Umgangs mit dem Raum überhaupt keine Rolle mehr? Und interessiert es überhaupt noch jemanden, was sich Stadtplaner, Soziologen oder Architekten als Ideal des Öffentlichen und als Gegenmodell zum Privaten vorstellen: elegante Raumentwürfe als programmatische Urbanotope?

Die Antwort auf all diese Fragen lautet schlicht: ja. Und das ist – nicht nur im Berliner Volksmund – auch gut so. Denn öffentliche Räume existieren in der Tat nur durch unseren alltäglichen Umgang mit ihnen, durch unsere sich in ihnen ständig verändernden Lebensstile und durch die damit wechselnden Bedeutungen, die wir aus ihnen beziehen wie auch in sie hineinschreiben. Öffentliche Räume verkörpern heute daher vor allem entscheidende gesellschaftliche Bühnen – und zwar in gleich doppelter Weise: als Bühnen urbaner Lebensstile wie als Bühnen zivilgesellschaftlicher Bewegung.

Berlin, Foto: David Kasparek

Berlin, Foto: David Kasparek

Dieses räumlich-soziale Wirkungsprinzip gilt in mancher Hinsicht auch bereits für die ältere europäische Stadtgeschichte. Denn die europäischen Städte entstehen seit der frühen Neuzeit schon als migrantische Konstrukte. Als Räume und Lebenswelten also, die nachhaltig durch die Zuwanderung von Menschen, Ideen und Waren geprägt sind. So müssen auch ihre Ordnungen stets zwischen einheimischen und fremden Akteuren wie zwischen traditionalen und innovativen Vorstellungen neu vereinbart werden. Seitdem fungieren die urbanen Räume daher als soziale Kontakt- wie als kulturelle Mischzonen. Weil in ihnen die vielfältigen Unterschiede zwischen sozialen Akteuren und Gruppen, zwischen Ethnien und Geschlechtern, zwischen Mentalitäten und Religionen ständig ausgelebt wie neu ausgehandelt werden: auf dem Markt wie im Rathaus, im städtischen Badehaus wie vor der Kirche, in der Zunft wie in der Nachbarschaft. Diese permanente Unruhe und Bewegung im städtischen Raum ist es vor allem, die dann die nötige Energie zu Wandel, Veränderung, Neuem verleiht. Das ist das historische wie aktuelle Grundkapital der Stadt: ihre soziale und kulturelle Heterogenität.

Öffentliche Räume bilden somit eine ganz entscheidende historische Grundlage für die systematische Ausbildung von sozialem Bürgersinn wie von politischer Stadtkultur. Dieser Prozess verläuft keineswegs linear, sondern in vielfältigen Wendungen und Windungen. Denn obrigkeitliche Verbote wollen den öffentlichen Charakter von Stadträumen stets gerne kontrollieren und einschränken. Und die systematische „Verdenkmalung“ der Städte im deutschen Kaiserreich etwa verleiht dann auch manchen öffentlichen Plätzen zumindest vorübergehend eine ausgesprochen konservative politische Atmosphäre, weil sie deren soziale Textur wie Symbolik bewusst verändert. Doch auch dadurch lässt sich die Entwicklung lokalgesellschaftlicher Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Ideen à la longue nicht aufhalten. Wenn Max Weber also um 1900 vom Geist der Freiheit als einem „verführerischen Duft“ spricht, der nunmehr von den großen Städten über das Land wehe. Und wenn Georg Simmel zugleich den Fremden als den entscheidenden kulturellen Modernisierer dieses urbanen Lebens beschreibt. Dann ist der freie und verführerische Ort dieser Entwicklung der städtische öffentliche Raum: als Ort von Gesellschaft und Geselligkeit, von Freiheit und Freizeit, von Einsamkeit und Liebe.

Deshalb spielt dies auch in der Biografie unserer Städte anthropologie- wie zivilisationsgeschichtlich eine so zentrale Rolle: jene lange Erfahrung im Umgang mit Differenz und Konflikt wie mit Nähe und Gemeinschaft und jene intime Kenntnis derjenigen Orte, in denen diese Erfahrungen gespeichert und verfügbar sind. Und deshalb verkörpern diese europäischen Stadträume dann auch bis in unsere späte Moderne hinein wichtige Laboratorien der sozialen und kulturellen Entwicklung: im Blick auf die Zukunft von Wirtschaft und Arbeit, von Wohnen und Lebensstilen, von sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung, von Selbstbildern und Fremdbildern. Diese Laborfunktion gilt einerseits strukturell und generell. Sie beinhaltet andererseits jedoch stets noch ein großes Maß an räumlich-lokaler Eigenlogik. Denn Stadtgesellschaft will ihr öffentliches Leben in Hamburg auch heute noch etwas anders gelesen haben als in Berlin oder München. Sonst ist man offenbar keine echte Metropole und Premiummarke.

Venedig, Foto: David Kasparek

Venedig, Foto: David Kasparek

Öffentliche Räume meinen heute also mehr denn je jene Orte städtischen Lebens, in denen ein hohes Maß an baulich, wirtschaftlich wie sozial „freiem“ Zugang uns allen gemischte Nutzungs- und Kontaktformen ermöglicht. Also jene hybriden Konfigurationen, die unsere Stadt- und Freizeitkulturen heute so nachdrücklich prägen. Nur zur Erinnerung: Nach der tiefen Krise der Städte in den Kriegs- und Nachkriegsjahrzehnten waren Stadtgesellschaft und Stadtraum erst seit den 1970er Jahren allmählich wieder lebendige und attraktive Lebenswelten geworden. Zunächst durch die Festivalisierung der Stadtkultur in Gestalt von Theater-, Musik- und Literaturfestivals, dann durch deren nachfolgende Institutionalisierung in Form von Tausenden von Kunst-, Kultur- und Museumsbauten und schließlich durch die Eventisierung über große internationale Kunst- und Kulturereignisse. Erst dieses Konzept der „urbanen Kulturalisierung“ – zunächst von oben, durch kommunale Kulturpolitik, dann auch von unten, durch soziale Bewegungen – hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten die „Wiederkehr der Innenstädte“ bewirkt. Dies dann jedoch so radikal und dramatisch, dass sich die Stadtgesellschaft mittlerweile selbst als eine permanente urbane Kulturbewegung organisiert und identifiziert: in konsumierenden und feiernden wie in reflektierenden und fürsorgenden Konfigurationen. Und dies längst unter Einbeziehung auch der „Anderen“: von Touristen und Mobilen, von Migranten wie Flüchtlingen.

So meint das städtische „Wir“ heute ein in vieler Hinsicht plurales, heterogenes, offenes Selbstbild – allen rechtspopulistischen Beschwörungen angeblicher lokaler wie christlich-abendländischer Identitätsverluste zum Trotz. Vielmehr umschließt das Themen- und Aktionsrepertoire dieser urbanen Kulturbewegungen das ganze breite Spektrum von Party- bis zu Politikformen, von segregativen Gruppenformationen bis zu gemeinschaftlichen Events, von lokalen Anlässen bis zu globalen Themen. Dabei geht es um Krieg und Flucht in Syrien, um Weltklima und Welthandel, um internationale Kunst und Musik. Ebenso aber auch um lokale Schul- und Parkprojekte, um ÖPNV-Tarife und Radwege, um Kiezthemen und Esskulturen. Und gleichsam quer dazu formieren sich zivilgesellschaftliche Bewegungen, wie sie etwa durch die voranschreitende Gentrifizierung der Innenstädte mobilisiert werden. Denn dieser Prozess verdrängt nicht nur ärmere Mietergruppen, sondern stellt die Mischstruktur der sozialen Stadt und ihrer öffentlichen Räume insgesamt infrage. Wo kapitalisiert und spekuliert wird, vollzieht sich das eben zuallererst in „territorialen“ Formen und Praktiken, also über die systematische Privatisierung und Kommerzialisierung von Gebäuden, Straßenräumen und Nutzungsformen.

Auch deshalb kommt es heute im öffentlichen Raum zu regelrechten „Raumkämpfen“ – und zwar im doppelten Sinn: zum einen als soziale wie ökonomische Auseinandersetzung um städtische Eigentums- und Nutzungsformen und um die damit verbundenen Planungs- und Finanzierungskonzepte; zum andern als politische und symbolische Strategie der Präsentation und Repräsentation von Akteuren, Interessen und Ideen im öffentlichen Raum. Denn dafür bildet er nach wie vor die wichtigste Bühne: den zentralen Ort für die Darstellung gemeinsamer Themen und Konflikte wie für die Selbstdarstellung sozialer und politischer Gruppierungen. Dabei geht es um Gruppen und Gruppeninteressen, die sich öffentlich inszenieren, um mit dieser räumlichen Präsenz auch die Anerkennung ihrer politischen Ziele zu erreichen. Das Spektrum reicht da vom Jugendclub bis in die Musikszene, vom Kulturfest bis zur Demonstration, von der christlichen Hochzeit im Dom bis zum Bau einer Moschee in der Innenstadt. Jede einzelne Bühne ist dabei umkämpft, weil sie auch von den anderen bespielt wird. So ermöglicht wie benötigt der städtische Raum heute besonders kreative Repräsentationsformen, um darin Aufmerksamkeit zu finden. Lokale Identitätsarbeit setzt gegenwärtig ein hohes Maß an physischer, medialer wie performativer Präsenz von Akteuren und Gruppen voraus.

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Wien, Foto: David Kasparek

Es geht dabei aber auch um die Stadtlandschaft insgesamt, als ein gemeinsames Spielfeld, in dem Beziehungen, Korrespondenzen wie Differenzen sichtbar gemacht werden und sich damit neue Konstellationen herstellen können. Und genau dies macht dann wiederum Interessen und Positionen verhandelbar und Kompromisse möglich. Insofern erfährt auch die Stadtgesellschaft als gemeinsamer identitärer Bezug von Alt- wie Neubürgern in den letzten Jahren ein spektakuläres Revival. Und damit eben auch der öffentliche Raum. Ob es um den Umgang mit Geflüchteten geht oder um die Schaffung bezahlbaren Wohnraums, um die Verbesserung öffentlicher Verwaltung oder um mehr Stadtgrün: Auch im Zeitalter der Neuen Medien sind soziale und zivilgesellschaftliche Bewegungen existenziell auf die physischen urbanen Räume angewiesen. Denn nur dort können sich Stimmungen, Haltungen und Gruppierungen emotional identifizieren und nachhaltig formieren: vor Ort.

So diskutieren alle Städte gegenwärtig an zentralen Fragen dieser neuen Kulturalisierung und Politisierung der Stadtgesellschaft. Stichworte wie Metropole und Marke, wie Soziale Stadt und Stadtkultur, wie Gentrifizierung und Flüchtlingsaufnahme, wie Renaturierung und Allmende prägen inzwischen überall die politische Agenda. Und diese Agenda ist ganz wesentlich „von unten“ thematisiert und gesetzt, von stadtbürgerlichen Initiativen. Die lange Zeit eher im akademischen Raum kursierenden Schlagworte von „Citizenship“ und „Civic Science“ sind damit inzwischen keine Leerformeln mehr, sondern mit aktivem sozialen und politischem Leben gefüllt. Längst haben die zivilgesellschaftlichen Initiativen mit ihren frechen Interventionen in die Stadtpolitik und mit ihren nachhaltigen Beteiligungen an Planungsvorgängen diese eigene Kompetenz und Expertise für sich errungen.
Dieser neue Urbanismus „von unten“ nimmt der Politik und Verwaltung weder Richtlinien- und Entscheidungskompetenzen aus der Hand noch Umsetzungspflichten und Verantwortungen ab. Aber er fordert aktiv ein neues Bündnis von Stadtpolitik und Stadtgesellschaft ein, das nunmehr von Partnerschaft und Offenheit geprägt sein muss. Und dies setzt hohe Ansprüche an beide Seiten – im Blick auf Mut wie auf Geduld. So gilt: Wo die öffentlichen Räume leben und funktionieren, hat einsilbige Politik und Basta-Planung „von oben“ wenig Zukunftsaussichten. Dies darf uns optimistisch stimmen. Denn gesellschaftliche Zukunftsperspektiven erschließen sich nun einmal nur im Dialog und auf Augenhöhe. Gerade in unseren Städten und in deren öffentlichen Räumen – eben „auf’m Platz“, wie der bekannte Fußball-Architekt Otto Rehagel stets predigte…

Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba (*1950) studierte  Empirische Kulturwissenschaft, Politologie und Philosophie in Tübingen. Es  folgten Promotion und Habilitation. Von 1992 bis 2015 war er Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ab 1994 dortiger geschäftsführender Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie. Im Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung war Kaschuba Vorstandsmitglied in den Jahren 2005 bis 2016 sowie geschäftsführender Direktor von 2012 bis 2014. Er ist Mitglied und seit 2014 im Vorstand der Deutschen UNESCO-Kommission sowie seit 2013 Mitglied der UNESCO-Expertengruppe Immaterielles Kulturerbe. Seit 2015 ist Wolfgang Kaschuba geschäftsführender Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung.

Fotos: David Kasparek

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