Beitrag von  Dagmar Meister-Klaiber

Die gute Form

Max Bill und die Ästhetik  des Einfachen

Das Gebot der Stunde sollte die Weiterentwicklung und Nutzbarmachung einstiger Werte und Visionen für die Probleme unserer Zeit sein, so die Autorin Dagmar Meister-Klaiber. Aber auch eine solche Transformation wird eine Gestaltung der Einfachheit, der Reduktion und der Beständigkeit implizieren müssen. Wie also heute eine Architektur schaffen, die die Zeiten überdauert und dennoch für die Gegenwart attraktiv ist? Eine Ästhetik der Dauer als Ästhetik der Zukunft?

„Unter einer guten Form verstehen wir eine natürliche, aus ihren funktionellen und technischen Voraussetzungen entwickelte Form eines Produktes, das seinem Zweck ganz entspricht und das gleichzeitig schön ist.“ Dieser Leitsatz dient als Kompass bei der Auswahl der Beispiele handwerklich oder industriell hergestellter Gegenstände und Bauten für die 1949 vom Schweizerischen Werkbund veranstaltete Ausstellung „Die gute Form“. Sie wird von Max Bill inhaltlich und formal geplant und gestaltet – geleitet vom Streben nach Verwirklichung einer allumfassenden Methode für Deutung und Gestaltung der Produkte seiner Zeit. Nach eigenen normativen Kriterien stellt Bill, der sich damals bereits als Künstler, Designer, Grafiker und Architekt einen Namen macht, Beispiele aus allen Gebieten der Gestaltung zusammen. In einer Begleitschrift zur Ausstellung erklärt Max Bill, dass er nicht Produkte des „schönen Scheins“, sondern „das Schlichte, das Echte – eben das Gute“ zeigen möchte. Später präzisiert er seine Auswahlkriterien mit der Begründung: „Die ästhetische Funktion als sichtbarer Ausdruck der Einheit aller Funktionen ist das entscheidende Argument dafür, ob ein Gegenstand über seine reine Zweckerfüllung hinaus zu den Kulturgütern unserer Zeit gerechnet und demzufolge als ‚Die gute Form‘ ausgezeichnet werden kann“.(1)

Der HfG-Türgriff geht als „Ulmer Türklinke“ in die Designgeschichte ein. Max Bill: „Von der Aussenarchitektur bis zum Türdrücker eine stilistische Einheit zu finden, die zeitgemäß und funktional ist, das war die Idee“. Entwurf und Entwicklung von Max Bill und Ernst Moeckl, Foto: Wolfgang Siol, Copyright: HfG-Archiv / Museum Ulm

Die unter dieser Prämisse versammelten Ausstellungsbeispiele reichen vom Türgriff bis zum Wohnquartier, von Wan­der­schuhen bis zum Cabriolet und von der Näh­maschi­ne bis zum Strommasten. Nüchterne, schnörkellose, von strikter Funktionalität und Reduktion geprägte Produkte und Bauten werden aufgeboten, um auf die „Schönheit des Puren und die Qualität des Einfachen“ aufmerksam zu machen. So werden nach Bills Kriterien für Mustergültiges auf Tafeln mit sachlichen Fotos und lapidaren Kommentaren Produkt um Produkt zu einem Wertekanon guter Formgebung aneinandergereiht. Aus heutiger Sicht muss konstatiert werden, dass über die Auswahl von 1949 für „Die gute Form“ zwar viel Zeit hinweggegangen ist, die Objekte aus dem Formenkosmos von einst aber erstaunlicherweise immer noch Ausstrahlung besitzen. Auch die funktionalen und konstruktiven Aspekte vieler Beispiele sind bei weitem nicht überholt, sondern bezüglich Nützlichkeit und Formgebung von frappierender Aktualität. Ein wesentlicher Grund für die Präsenz von Inhalt und Ausdruck dürfte in der programmatischen Sicht auf die Dinge liegen. Die Ausstellung von 1949 verfolgt klare gesellschaftspolitische Ziele und appelliert an die soziale Verantwortung von Design und Architektur. Sie will in gestalterischen Fragen Orientierung geben und ein Bewusstsein schaffen für die Einheit von Zweckmäßigkeit und Schönheit. Neben einer Ästhetik des Purismus setzt sie auf die Ökonomie der Mittel, auf Funktionalität, Hochwertigkeit und Langlebigkeit.

Bildtafeln aus der Ausstellung „Die gute Form“, Lichtschalter und Stecker, 1949, in: Max Bill: Die gute Form, Winterthur 1957.

Die Vorläufer der Schweizerischen „Guten Form“ sind ab 1914 die Ausstellungen zu Bauweisen und Industriedesign des Deutschen Werkbunds. Bei seiner 1924 gezeigten Ausstellung „Die Form ohne Ornament“ steht bereits der Begriff der Einfachheit im Sinne einer Einheit von Form und Funktion im Fokus. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch ist Max Bill der erste in Europa, der mit seinem 1946 veröffentlichten Aufsatz „Erfahrungen bei der Formgestaltung von Industrieprodukten“(2) die Frage nach der gestalterischen Qualität von Gebrauchsgegenständen stellt. Aufsehen erregt Max Bill dann 1948 mit seinem programmatischen Vortrag „Schönheit aus Funktion und als Funktion“(3) auf der Jahrestagung des Schwei­zerischen Werkbunds in Basel. In seinem 1952 veröffentlichten Buch FORM(4) erweitert Bill nicht nur die Bildkollektion gut gestalteter Produkte, sondern auch seinen funktionalistischen Gestaltungsbegriff und erklärt zur Untermauerung seiner These, dass auch die Schönheit ihre Funktion habe und wiederum die Erfüllung der Funktionen Grundlage für die Schönheit sein müsse. Die soziale Funktion wird als immanent betrachtet, ebenso wie die Ästhetik im Sinne einer Einheit aller Funktionen. Bills ästhetische Theorie kann als Variante zu Louis Henry Sullivans Slogan form follows function verstanden werden, der im Design des 20. Jahrhunderts zum Leitsatz des europäischen Funktionalismus wird. Für Bill liegt die Zukunft in der Verbindung von ingenieur­mäßigem Rationalismus und konstruktiver Schönheit, wie Henry van de Velde es seinerzeit mit dem Begriff der „vernunftgemäßen Schönheit“ umschreibt.

Bildtafeln aus der Ausstellung „Die gute Form“, Beton-Bauelemente, 1949, in: Max Bill: Die gute Form, Winterthur 1957.

Diese Thesen zur Gestal­tungstheorie entstehen in ei­ner Zeit des Aufbruchs und ei­ne Beispielsammlung wie „Die gute Form“ zeugt von einer ü­berschaubaren Warenwelt und ebensolchem Baugeschehen. Was davon kann heute von Bedeutung sein? Was tut not in einer Gesellschaft mit zunehmender Komplexität in allen Lebensbereichen? Was tut not in einer Zeit, die ökologisch und ökonomisch aus den Fugen zu geraten scheint? Was tut not in einer Welt der Stile und Moden, die so grell und schnell aufblitzen und vergehen wie ein Werbespot? Mode unterliegt einem zeitlich begrenzten System, diktiert von einem Markt, der nach ständiger Veränderung verlangt und dabei meist nur an die Verbesserung der Verkaufbarkeit und weniger an die Qualität des Produkts denkt. Die ökologische Problematik dieser Welt erfordert von Design und Architektur, sich von den Versuchungen modischer Erschei­nun­gen fernzuhalten und Konzepte mit ei­ner Moral der Sparsamkeit und Dauerhaftigkeit zu entwickeln, um den aktuellen Herausforderungen adäquat zu begegnen. Hält man sich die Mahnungen des Club of Rome von 1972 vor Augen, die in diesen Tagen mit Nachdruck erneuert und durch Endzeitszenarien verstärkt werden, scheint der Abschied von einem System des Überflusses unumgänglich.

Stile, auch Lebensstile, verändern sich, nicht jedoch die Grundbedürfnisse der Menschen nach einer lebenswerten Umwelt. In zweifellos unwirtlicher werdenden Zeiten legt die Suche nach Orientie­rung den Gedanken nahe, im Einfachen das jetzt Notwendige und Richtige zu sehen. In der Logik des Marktes ist die Antwort auf eine Änderung der Bedürfnisse eine rasche Ände­rung der Produktphilosophie. Angebo­te wie „Dinge mit Seele“, Lowtech-Ideen, Tiny-Konzepte oder Upcycling-Produkte befriedigen aktuelle Bedürfnisse und laufen gleichzeitig Gefahr, damit lediglich den Zeitgeist zu bedienen, wenn sie nicht eine Dauerhaftigkeit im kulturellen Sinn anstreben und ihre Werte zu systemimmanenten Komponenten werden. Nachhaltigkeit setzt Langlebigkeit voraus, die bestenfalls in Zeitlosigkeit mündet. Zeitloses ist in aller Regel nicht gefällig, steht außerhalb des Gängigen, erfüllt nicht die Lust nach Vordergründigem und erfährt selten Akzeptanz in seiner Zeit. Weder die Moderne der 1920er-Jahre, wie das Bauhaus in Des­­sau, noch die Nachkriegsmoderne mit der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die beide aus heutiger Sicht eine zeitlose und immer noch wirkmächtige Architektur besitzen, finden in ihrer Zeit Anerkennung. Wie also heute eine Architektur schaffen, die die Zeiten überdauert und dennoch für die Gegenwart attraktiv ist? Was muss Produktgestaltung leisten, um dem Zeitgeist zu entkommen? Wie das Dauerhafte, das Beständige, das Werthaltige, das am „Schönen und Guten“ Orientierte erreichen? Kann das Einfache, das nach Klarheit, Eindeutigkeit und Substanz verlangt, die Lösung sein?

Nachhaltiges Wirken im Sinne einer dauerhaften Dimension von Architektur und Produktgestaltung bedingt eine Moral der Bescheidenheit, wie sie Max Bill – wesentlich inspiriert durch die japanische Philosophie des Minimalismus – in seinen Schriften zum Thema Ethik und Ästhetik immer wieder anklingen lässt. Die Grundlage seiner ästhetischen Theorie findet Bill – ebenso wie einige seiner berühmten Vorgänger – im klassischen Dreiklang frei nach Vitruv, wonach Funktionalität, klare Konstruktion und Schönheit die Prämissen für eine gute und werthaltige Gestaltung sind.(5) Auch die von Walter Gropius bereits 1926 veröffentlichten „Grundsätze der Bauhausproduktion“ beinhalten das programmatische Ziel der „Einfachheit im Vielfachen“ nach dem Motto „knappe Ausnutzung von Raum, Stoff, Zeit und Geld“. Später soll der Slogan „Less is more“ von Mies van der Rohe die Gestalter dazu anregen, basierend auf Funktionalität reduzierte und klare Formen zu bevorzugen. Auch Adolf Loos war ein Verfechter des Reduktionsprinzips und in Le Corbusiers Schrift „Vers une architecture“ von 1923 ist zu lesen, das Einfache sei Ergebnis von Urteilskraft und Auswahl, mithin „das Merkmal der Meisterschaft“. Ebenso forderten bereits antike Naturphilosophen, dass eine wahre Theorie nicht nur schön und gut, sondern auch einfach sein sollte. Diese Ansicht vertrat auch Albert Einstein, von dem der Satz überliefert ist: „Man sollte alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher“.(6)

Die gegenwärtig virulente Idee der Ein­fachheit in Architektur und Produktgestaltung ist also nicht neu. Immer wieder werden ökonomische, ökologische, soziale, bautechnische und ästhetische Ansätze für eine neue Form des Bauens diskutiert. So löst zum Beispiel Mitte der 1980er Jahre die Frage nach einer „Neuen Einfachheit“ eine heftige Kontroverse unter Architekten aus. Dabei fordert der Architekt und Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani, an die Qualität der Tradition anzuknüpfen, denn die Umweltkrise zwinge zur Solidität. Er plädiert für eine einfache, dauerhafte Architektur, die jedoch nicht nur eine materielle, sondern auch eine ästhetische Dimension haben müsse. Wolfgang Pehnt resümmiert bei diesem Diskurs, dass schon viel gewonnen wäre, wenn der Gedanke an die Endlichkeit aller Ressourcen zu einem Urteilskriterium über Architektur würde.(7)

Vor dem Hintergrund dieser vorangegangenen Positionen wird die historisch zu nennende Auswahl der Produkte und Architekturbeispiele für „Die Gute Form“, bezogen auf die Anforderungen der Gegenwart, zum eindrucksvollen Beispiel für eine Gestaltung der Beständigkeit, der Reduktion, der Einfachheit und damit der Zeitlosigkeit. Etliche zu Klassikern avancierte und heute noch erhältliche Gebrauchsgegenstände, seien es Aalto-Vasen, Mies-Sessel oder Eames-Stühle, besitzen immer noch Gültigkeit und sind in ihrer Erscheinung von zeitloser Modernität. Architekturbeispiele, wie die Ausstellungshalle in Turin von Pier Luigi Nervi oder die Stabbogen-Brücke über das Schweizerische Schwandbachtal von Robert Maillart, sind nach wie vor von faszinierender Schönheit und gelten als Meilensteine moderner Baukunst.

Warum werden bestimmte Produkte und Architekturen der Vergangenheit heute noch beachtet, geschätzt und als schön empfunden? Worin liegt ihr Mehrwert? Warum freuen wir uns beim Anblick eines wohlgeformten Oldtimers, selten jedoch über das aktuell uniforme Autodesign? Die gute Form resultiert aus einem Bündel an Komponenten, bei dem offenbar auch die Emotion eine Rolle spielt. Was als schön oder stimmig empfunden wird, bedarf einer positiven emotionalen Wahrnehmung. Theorien der Ästhetik zufolge besitzt jeder Mensch einen Sinn für universale Schönheit und die Empfindung für einen ästhetischen Wert steht in direkter Beziehung zu den richtigen Proportionen.(8) So geht der Architekt György Doczi in seinen Untersuchungen über harmonische Proportionen in Natur und Architektur davon aus, „dass unter der widerspruchsvollen Oberfläche dieser Welt eine nach Einheit strebende Kraft existiert, die sich in harmonisch ausgewogenen Grundmustern manifestiert“ und dies der menschlichen Sehnsucht nach Ordnung und Ganzheit entspricht.(9)

Im Verhältnis zu einem Gebrauchsgegenstand ist ein Bauwerk ein sehr viel komplexeres Gebilde. Die Veränderungen in den Baumethoden, Vorfabrizierung und Normierung, technischer Fortschritt bei der Gebäudeausstattung und die Vorschriften bei Planung und Bau greifen tief in die Gestaltungsfreiheit der Architekten ein, die zwangsläufig mit der Zeit gehen müssen. Die Herausforderung liegt daher in der Anpassung an den Wandel, ohne eine ganzheitliche Betrachtung aufzugeben und den moralischen Anspruch, mit Gestaltung an der Veränderung der Gesellschaft mitzuwirken. Das legt den Schluss nahe, dass Architektur – über pragmatische Aspekte hinaus – Zeitlosigkeit vermutlich erst dann erreicht, wenn eine Idee, ein inhaltliches Programm zugrunde liegt, das schlüssig in eine bauliche Gestalt umgesetzt wird, bei der Ethik und Ästhetik eine Einheit bilden und Architektur zum sichtbaren Ausdruck eines Standpunktes, einer Haltung wird.(10)

Die Hochschule für Gestaltung Ulm: Dominierend ist eine Ästhetik der Reduktion mit Übereinstimmung von innerer Organisation und äußerer Erscheinung, Foto: Otl Aicher, 1955, Copyright: HfG-Archiv / Museum Ulm

Mit sublimer Selbstpromotion stellt Max Bill am Ende des Buches FORM als Beispiel für die Umsetzung der eigenen Theorie der Ästhetik seine Architekturpläne für die Hochschule für Gestaltung in Ulm vor. Wer heute die HfG, Bills architektonisches Hauptwerk, genauer betrachtet, wird basierend auf seiner Gestaltungstheorie das ganze Vokabular einer Architektur der Einfachheit erkennen. Bills proklamiertes Ziel, Bauten zu entwickeln, deren Qualität in der Einheit aller Funktionen, inklusive jener der Schönheit liegt, findet zweifellos Entsprechung im Bau der HfG.(11) Die Ästhetik der Einfachheit wird bei der Konzeption für die HfG erzielt durch ein komplexes Entwurfsprinzip, das eine „Struktur-Idee zur Grundlage einer Gestalt-Idee gemacht hat“, wie der Philosoph Max Bense über Bills Werk schreibt.(12) Was aber sind die signifikanten Merkmale und prägenden Qualitäten der HfG-Gebäude? Wodurch werden sie erreicht? Was sind die Quellen der Kompositionsstruktur? Wodurch entsteht die spezielle atmosphärische Wirkung dieser Architektur? Welche Faktoren lassen die inzwischen siebzig Jahre alte Anlage zeitlos modern erscheinen?

Absolute Reduktion, Materialökonomie und Multifunktionalität: Der HfG-Hocker, Foto: Ernst Hahn, Copyright: HfG-Archiv / Museum Ulm

Fragen nach Prinzipien und Wirkung der Architektur können nicht allein mit strukturellen Komponenten beantwortet werden, da sinnlichen Prozessen, die Wahrnehmung, Orientierung und Identifikation evozieren, gleichfalls entscheidende Bedeutung zukommt. Neben der auf Pragmatismus und Funktionalität ausgerichteten Gestaltung der HfG-Gebäude ist bei vertiefter Betrachtung erkennbar, dass ein komplexes Regelsystem vorliegt, das zwar nicht explizit lesbar, aber kompositorisch im Hintergrund wirksam wird. Die strukturelle Qualität basiert wesentlich auf einem mathematisch gestützten Harmoniebegriff und dem Rezipieren einer pythagoreischen Ordnung, die Bill als Plattform für seine Konzeption dient. Nicht in raffinierten Details oder technischen Innovationen, sondern in einem ganzheitlichen Konzept liegt die spezielle Qualität dieser Schulanlage. Dominierend ist eine Ästhetik der Reduktion mit optimal in das Gelände eingefügten Volumina, äußerst funktionalen fließenden Raumgebilden, einer puristischen Materialität und einem bis zur Essenz reduzierten Erscheinungsbild im Inneren wie im Äußeren. Neben diesen Gestaltungsprinzipien diktierten das Lehrprogramm der HfG Ulm und ein Mangel an Mit­teln und Möglichkeiten die architektonische Ausprägung. Konstitutiv für die spezifische Präsenz von Ästhetik und Atmo­sphäre ist die Einheit von Form und Funktion mit der kon­sequenten Reduktion auf das Wesentliche. Die daraus resultierende Klarheit wird als schlüssiges Programm einer Architektur wahrgenommen – und damit als sichtbarer Ausdruck einer Haltung. Die einstige Forderung der HfG-Gründer Inge Scholl, Otl Aicher und Max Bill, dass in der Architektur der Hochschule für Gestaltung Geist und Anspruch der Idee zum Ausdruck kommen müsse, kann angesichts der Übereinstimmung von innerer Organisation und äußerer Erscheinung, von Form und Funktion, als erfüllt betrachtet werden.

Lernen von der Hochschule für Gestaltung Ulm? Lernen vom Bauhaus? An beiden Institutionen suchte man nicht nur nach der Einheit von Form und Funktion, sondern wollte auch eine bessere Welt schaffen. Aktuell wird die Idee, unsere Umwelt „nachhaltiger, schöner und inklusiver“ zu gestalten, vom „New European Bauhaus“, einem als „Green Deal“ von der EU ausgerufenen Programm verfolgt. Sollte es sich nicht nur um ein zeitgeistiges Labeling handeln, wird es auch nicht bloß um den schlichten Rekurs auf die Ideen und Gestaltung des legendären Bauhauses gehen können. Vielmehr sollte das Gebot der Stunde die Weiterentwicklung und Nutzbarmachung einstiger Werte und Visionen für die Probleme unserer Zeit sein. Jedoch auch eine derartige Transformation wird eine Gestaltung der Einfachheit, der Reduktion und der Beständigkeit implizieren müssen. Eine Ästhetik der Dauer als Ästhetik der Zukunft? Lernen lässt sich das aus der Geschichte.

Dagmar Meister-Klaiber studierte Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung Ulm, Diplom am Institut für Filmgestaltung. Während und danach Assistenz bei Spielfilmen von Alexander Kluge und Edgar Reitz sowie Autorin und Mitregisseurin von Dokumentarfilmen. Danach folgte Aufbaustudium am Institut für Umweltplanung der Universität Stuttgart. Ab 1973 war sie Feuilletonredakteurin bei einer Tageszeitung und Redaktion eines Stadtmagazins. Seit 1985 freie Journalistin mit Berichten zu Film, Kunst, Design und Architektur. Bis heute wirkt sie neben ihrer journalistischen Arbeit konzeptionell und gestalterisch im gemeinsam mit Daniel P. Meister geführten Büro für Architektur und Stadtplanung mit. Publikationen zu Stadtforschung und Architektur sowie Ausstellungen, wie die auf Basis des gemeinsam verfassten Buches über die Architektur der HfG Ulm konzipierte und kuratierte Wanderausstellung „ästhetik des einfachen“.

Fußnoten

1 Max Bill: Die gute Form, Winterthur 1957.

2 Veröffentlicht in: Werk Nr. 5, 1946.

3 Abgedruckt in: Werk Nr. 8, 1949.

4 Max Bill: FORM. Eine Bilanz über die Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts, Basel 1952.

5 Vgl. Claude Lichtenstein: Die schöne Form des guten Gegenstandes, in: Max Bill. Sicht der Dinge, Zürich 2014.

6 Vgl. Detlev Schöttker (Hrsg.): Ästhetik der Einfachheit. Texte zur Geschichte eines Bauhaus-Programms, Berlin 2019.

7 Vgl. Gert Kähler (Hrsg.): Einfach schwierig. Eine deutsche Architekturdebatte. Ausgewählte Beiträge 1993 – 1995, Bauwelt Fundamente Band 104, Braunschweig / Wiesbaden 1995.

8 Vgl. Paul von Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982.

9 Vgl. György Doczi: Die Kraft der Grenzen. Harmonische Proportionen in Natur, Kunst und Architektur, München 1984.

10 Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani: Die Modernität des Dauerhaften. Essays zu Stadt, Architektur und Design, Berlin 1995.

11 Vgl. Daniel P. Meister, Dagmar Meister-Klaiber: einfach komplex – max bill und die architektur der hfg ulm, Zürich 2018.

12 Vgl. Max Bense: Ästhetik und Zivilisation, Krefeld / Baden-Baden 1958.

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