Donatella Fioretti im Gespräch mit Benedikt Hotze

Ein Ganzes schaffen

Donatella Fioretti absolvierte 1990 ihr Studium der Architektur am Istituto Universitario di Architettura di Venezia (IUAV). In Partnerschaft mit Piero Bruno und José Gutierrez Marquez gründete Donatella Fioretti 1995 das Architekturbüro Bruno Fioretti Marquez mit Standorten in Berlin und Lugano. Kulturbauten sowie Wohnungs- und Bildungsbauten, auch in der Auseinandersetzung mit bestehender, denkmalgeschützter Architektur, bilden die Schwerpunkte des Büros, einige Projekte wurden im Rahmen von UNESCO Welterbestätten realisiert. Viele der gebauten Projekte sind Ergebnisse von Wettbewerbserfolgen und wurden mit Architekturpreisen wie dem DAM Preis für Architektur in Deutschland, dem Hugo Häring Preis, dem BDA Preis Berlin oder dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet. Neben ihrer Tätigkeit als Architektin wurde Donatella Fioretti 2011 als Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an die Technische Universität Berlin berufen. Seit Oktober 2017 lehrt sie als Professorin für Baukunst an der Kunstakademie Düsseldorf.

Frau Fioretti, wir sprechen hier über Umbau, Bauen im Bestand und die Rolle des Architekten. Welche Rolle spielt das Umbauen in Ihrem Denken über Architektur und in Ihrem Werk?
Ganz sicher eine große Rolle. Schon während des Studiums haben wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit einem historischen städtebaulichen Kontext oder mit einem historischen Gebäude das Denken über Architektur schult und hilft, eine eigene Philosophie zu entwickeln.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017, Foto: Stefan Müller

Sie sind im Studium schon damit konfrontiert worden. War das Inhalt der Lehre oder haben Sie damals bereits eine Umbauaufgabe wahrgenommen?
Ich habe in Venedig studiert, ebenso wie Piero und Pepe. Wir haben uns dort kennengelernt. Es gab in der Universität ein ganzes Institut für Restauro, das Thema war sehr präsent. Wir waren fast täglich in der Biblioteca Querini Stampalia, die von Carlo Scarpa umgebaut worden ist und unsere Universität selbst wurde von Daniele Calabi in den 1960er Jahren umgebaut. Die Konfrontation mit Transformation und den dazugehörigen unterschiedlichen Strategien gehören zu den täglichen Erfahrungen, wenn man in Venedig lebt. Aufgrund des reichhaltigen Patrimonio, das man in Italien zur Verfügung hat, ist das Bauen im Bestand ein wesentlicher Aspekt der Arbeit eines Architekten. Alle bedeutenden italienischen Architekten – von Caccia Dominioni bis Albini oder Mollino – haben im Bestand gearbeitet. Die Frage, die in diesem Zusammenhang interessant sein kann, ist, inwiefern die Auseinandersetzung mit dem Bestand unser Denken über Architektur beeinflusst hat. Bauen im Bestand verlangt, dass man nicht einfach den eigenen Automatismen oder gestalterischen Vorlieben folgen kann. Man ist ständig mit einer Fragestellung konfrontiert, die man nicht mit den Werkzeugen, die man im Neubau einsetzen würde, beantworten kann. Man muss eigene Umbau-Strategien finden. Das Korsett des Bestands zwingt uns, andere Wege zu suchen. Das verändert unsere Art über Architektur zu denken.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017 (Zustand vor dem Umbau), Foto: Colin Smith (via Wikimedia / CC BY-SA 2.0)

Die nächste Frage zielt nach dem Auftraggeber. Wenn Sie ein Gebäude umbauen, sind Sie dann nur ein Werkzeug, das die Wünsche des Auftraggebers umsetzt? Oder haben Sie Gestaltungsmöglichkeiten oder sogar die Verpflichtung zur Gestaltung?
Ehrlich gesagt, sehe ich zwischen Neubauten und Bauen im Bestand keinen großen Unterschied, was meine Rolle als Architektin und mein Verhältnis zum Bauherrn betrifft. Die Beziehung zu den Auftraggebern ist immer eine sehr wichtige Schlüsselbeziehung, unabhängig von der Bauaufgabe. Es ist unsere Aufgabe als Architekten, das architektonische Narrativ zu bestimmen und zu kommunizieren. Wir müssen selbstverständlich die Aufgabe und die funktionalen Anforderungen lösen, ein Ganzes schaffen, und zwar so, dass der Bauherr auch an den architektonischen Konsequenzen interessiert ist. Wir versuchen, unsere Bauherren zuerst mit architektonischen Konzepten zu überzeugen, dann erst kommen die konstruktiven, statischen, technischen und funktionalen Dinge zur Sprache. Und das gilt sowohl für Neubauten als auch für das Bauen im Bestand.

Ja, da kann ich Ihnen folgen. Wann wird ein Umbau für Sie interessant? Ich denke, es gibt keine zu kleinen oder zu uninteressanten Projekte bei Ihnen.
Nein, grundsätzlich können alle Aufgaben interessant sein. Bei öffentlichen Projekten spielt der Aspekt der sozialen Verantwortung eine wichtige Rolle – das ist eine Herausforderung, die mich als Architektin per se sehr interessiert. Bei privaten Bauaufgaben steht und fällt unser Interesse mit der Persönlichkeit des Bauherrn und dem Eindruck einer interessanten inhaltlichen Auseinandersetzung. Dann macht es für uns Sinn.

Was macht einen guten Umbau aus? Substanzverbesserungen, also technisch, funktionale Anpassungen, räumlich-atmosphärische Verbesserungen?
Alles zusammen, oder? Ich sehe das nicht als Alternative. Man muss alles gut machen, das ist die Aufgabe des Architekten.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017, Foto: Stefan Müller

Kommen wir zur Analyse des Vorhandenen. Können Sie am Beispiel Schloss Wittenberg kurz erläutern, wie Sie analysiert haben als Voraussetzung für Ihren Entwurf?
Grundsätzlich gibt es von unserer Seite zunächst eine tiefgründige historische Forschung und eine Sammlung von historischem Material, was im Fall von Schloss Wittenberg sehr reichhaltig vorhanden war. Es war uns sehr wichtig, die Transformationen dieses Schlosses zu verstehen: zunächst als Residenzschloss, dann als Festung. In dem spezifischen Fall von Schloss Wittenberg gab es zusätzlich viele und sehr unterschiedliche Fördertöpfe, die jeweils andere Nutzungen unterstützt haben. Einer unserer ersten Gedanken war: Wir haben eine physische Architektur auf der einen Seite und eine „Architektur der Finanzierung“ auf der anderen Seite. Es gab ein Besucherzentrum im Erdgeschoß, eine wissenschaftliche Bibliothek und ein Predigerseminar. All diese Programme galt es unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig war für uns wichtig, dass sich die Funktionen nicht gegenseitig stören, sondern unabhängig voneinander funktionieren – und, dass Synergien entstehen. Es gab also eine grundsätzliche historische Forschung, das Denkmal musste betrachtet werden, die Substanz, das Programm, die Finanzierung. Das Gebäude wurde in den fünfziger und sechziger Jahren durch kleinräumige Nutzungen überformt. Für uns stellte sich die Frage nach der passenden Strategie, die uns in die Lage versetzen konnte, mit dieser Komplexität zu arbeiten, ohne sie zu glätten. Die Metapher vom Palimpsest, das uns erlaubt, die verschiedenen Schichten sichtbar zu machen, hat uns geholfen, den Umgang mit dem Bestand in diesem spezifischen Kontext zu verstehen. Grundsätzlich haben wir die Überformungen entfernt, um die Räume für sich sprechen zu lassen. Es gab aber auch Situationen, in denen wir sehr radikal handeln mussten – wie zum Beispiel bei den Interventionen für die neuen Treppenhäuser.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017, Foto: Stefan Müller

Jetzt kommt die Frage nach der Sichtbarkeit eines Eingriffs. Wo verorten Sie sich da? Soll der Eingriff sichtbar sein oder soll Alt und Neu ineinander übergehen?
Ich finde grundsätzlich ja. Die Frage ist jedoch, in welcher Form der Eingriff sichtbar wird. Carlo Scarpa hat fast eine Art Orthodoxie geschaffen: die reine Lehre der pädagogischen Fuge. Heute sind wir in der Lage, verschiedene Strategien zu nutzen. Das berühmte Treppenhaus der Bibliothek Querini Stampalia verdeutlicht Scarpas Ansatz: Die neuen Steinplatten bedecken die historische Treppe nur partiell und setzen sich durch eine Fuge vom Bestand ab. Döllgast hingegen kreiert in München eine Kontinuität, die dann einen Kontrast im Material sucht. Wir brauchen keine neue Orthodoxie. Gerade beim Schloss Wittenberg haben wir mit dem „Weiterschreiben“ auf dem Dach, dem „Herausarbeiten“ bestehender historischer Spuren und der zeitgemäßen „Intervention“ mehrere Strategien verfolgt. Die unterschiedlichen Herangehensweisen waren den jeweiligen Situationen geschuldet und meiner Meinung nach stehen sie nicht im Widerspruch zueinander.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017, Abb.: BFM

Sie erwähnten Döllgast. Er selbst hat seine Wiederaufbauten durchaus als Provisorium gesehen. Denken wir an die Allerheiligen-Hofkirche, wo er eine flache Decke eingebaut hat, wesentlich später hat man dann das Gewölbe wieder eingesetzt. Diese provisorischen Denkmalinterventionen sind ja in der Bevölkerung unbeliebt, sodass immer wieder gefordert wird, es doch jetzt endlich mal schön zu machen, oft auch von Politikern. Ist das gefährlich?
Dieses „endlich mal schön machen“ ist ein Thema, das die deutsche Architekturdebatte in den letzten Jahren bestimmt. Ich erkläre mir das als Reaktion auf die Zerstörungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, die ihren Ursprung in dem Wunsch nach einem beschönigenden Bild einer intakten Vergangenheit hat. Ein Argument gegen die Rekonstruktion ist, dass man die historische Uhr nicht nach Bedarf zurückdrehen und eine Pseudowirklichkeit behaupten kann, indem man vergangene Architektur schlecht imitiert.

Bruno Fioretti Marquez, Umbau und Erweiterung Schloss Wittenberg, 2011–2017, Foto: Stefan Müller

Wenn wir über Rekonstruktion in Deutschland sprechen, muss man Ihre Dessauer Meisterhäuser ansprechen und die Strategie der unscharfen Rekonstruktion. Das ist die beste Lösung, die man sich vorstellen konnte in dieser verfahrenen Situation, wo die einen aus touristischen Gründen wieder weiße Gropius-Kisten haben wollten und die anderen, Denkmalpfleger und Architekten, unbedingt etwas ganz Anderes, was sich davon absetzt. Ihr Konzept leistet beides.
Wir haben uns im Zusammenhang mit dem Projekt intensiv mit dem Thema Rekonstruktion auseinandergesetzt. In Warschau, nur um ein Beispiel zu nennen, wurde das zerstörte historische Zentrum sofort nach dem Krieg wieder aufgebaut. Die zerstörte Altstadt war ein epochales Trauma – vor diesem Hintergrund wird diese Entscheidung verständlich. Doch trotz des tiefen Verständnisses für diese Art von Nostalgie bin ich der Meinung, dass es eine komplexere Art der Auseinandersetzung geben sollte. Bei den Meisterhäusern hatten wir nicht das Gefühl, dass eine philologische Rekonstruktion die passende Antwort gewesen wäre, die sowieso nicht möglich war, da die Dokumente abhanden gekommen sind. Stattdessen war es uns wichtig, von der Abwesenheit des Ursprünglichen zu sprechen und gleichzeitig das Ensemble und die Zusammenhänge mit der Siedlungsidee aufzuzeigen. Da die Häuser jedoch heute komplett neue Funktionen haben, suchten wir eine Metapher, die diesem Narrativ gerecht wird. Bei den Meisterhäusern haben wir den Begriff oder das Bild der Unschärfe genutzt, um unsere Idee in den Gesprächen mit den verschiedenen Akteuren zu transportieren.

Der BDA hat ein klimapolitisches Positionspapier beschlossen, in dem steht, dass aus ökologischen Gründen Umbau und Weiterbau Vorrang haben sollen vor Abriss und Neubau. Gibt es neben der grauen Energie auch noch andere strategische, philosophische Gründe für Umbau statt Neubau?
Ja, die Schichten der Zeit, die in einem Gebäude stecken, zu bewahren und die vielen Geschichten, die die Patina eines Gebäudes uns und den nächsten Generationen erzählen kann, sichtbar zu machen.

Andreas Hild spricht ja von verschiedenen Architektentypologien, er nennt Künstler, Handwerker, Techniker, Moderator und Rekonstrukteur. Können Sie Ihre Haltung einer dieser Gruppen zuordnen?
Für mich beinhaltet der Beruf des Architekten per se all diese Aspekte, die sich gegenseitig beeinflussen: den Künstler, Handwerker, Techniker, Moderator und Rekonstrukteur. Dieser vielschichtige Blick ist meiner Meinung nach das Privileg des Architekten. In einer Welt der Spezialisten sind wir die letzten Humanisten.

Die letzte Frage zielt nach Notre Dame de Paris, nach dem schrecklichen Brand. Schöner als je zuvor wieder aufbauen? Was ist Ihr Rat an Herrn Macron?
Wenn ich an die Vorschläge denke, die ich gesehen habe, bricht mir der kalte Schweiß aus. „Schöner als zuvor“, fürchte ich, ist nicht in Anlehnung an das Wabi-Sabi Konzept der japanischen Zen-Buddhisten zu verstehen. Das tiefe Verständnis des Fehlerhaften als Schönheitsversprechen ist nicht Teil unseres konventionellen Kulturbegriffes.

Benedikt Hotze studierte in Braunschweig und Lausanne Architektur, war 22 Jahre lang Redakteur bei Bauwelt und BauNetz und hat in Bochum und Cottbus Architekturvermittlung gelehrt. Er ist seit 2015 Pressereferent des BDA.

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