Öffentliche Bibliotheken als Orte der Zugehörigkeit

Einem Zuhause am nächsten

Ryan Dowd im Gespräch mit Maximilian Liesner

Ryan Dowd arbeitet im Hesed House, einer großen Notunterkunft außerhalb von Chicago (USA), die er zeitweise auch leitete. Nach einem ersten Vortrag zum Umgang mit obdachlosen Besucherinnen und Besuchern auf einer Bibliothekskonferenz erhielt er weitere Anfragen und spezialisierte sich schließlich darauf, Organisationen zu diesem Thema zu schulen. Sein Buch „The Librarian’s Guide to Homelessness” wurde 2018 von der American Library Association veröffentlicht. Er ist als Anwalt zugelassen und absolvierte ein Studium der Verwaltungswissenschaft. Mit Ryan Dowd sprach Maximilian Liesner. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.

Wie haben Sie erfahren, was öffentliche Bibliotheken obdachlosen Menschen bedeuten?
Einer der Wendepunkte für meinen Blick auf Bibliotheken war eine Fokusgruppe, bei der wir die Gäste unserer Unterkunft gefragt haben, welches Gerechtigkeitsthema wir als Nächstes angehen sollten: bezahlbaren Wohnraum, polizeiliches Fehlverhalten, Drogenberatung… – und sie wollten Bibliotheksausweise. Ohne diese konnten sie die Bibliothek zwar betreten, aber keinen Computer benutzen oder Bücher ausleihen. Als sie mir das erklärten, ist mir klar geworden, dass Bibliotheken ein greifbares Symbol der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sind. Einige Bibliotheken legen fest, dass man für einen Ausweis eine Wohnung haben muss. Für unsere Bewohner hörte sich das an wie: „Du gehörst nicht zu dieser Gemeinschaft, du kannst dieses öffentliche Gebäude nicht nutzen.“ Das hat meine Sicht auf Bibliotheken wirklich verändert.

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus "Public Library", 2013: Cyril Schäublin

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus „Public Library“, 2013: Cyril Schäublin

Was sind die Alleinstellungsmerkmale von Bibliotheken, die sie so attraktiv für obdachlose Menschen machen?
In vielerlei Hinsicht sind Bibliotheken das exakte Gegenteil von Notunterkünften und von Obdachlosigkeit überhaupt. Wenn jemand, der von Obdachlosigkeit betroffen ist, eine Bibliothek betritt, lässt er die Obdachlosigkeit vorübergehend hinter sich. Bibliotheken sind relativ weitläufig, Notunterkünfte sind überfüllt. Bibliotheken sind relativ ruhig, Notunterkünfte sind sehr laut. Bibliotheken sind größtenteils sauber, Notunterkünfte neigen dazu, ziemlich schmutzig zu sein. In Bibliotheken streifen keine Polizisten umher, die danach Ausschau halten, ob jemand etwas Verbotenes tut. Auf der Straße müssen obdachlose Menschen ständig Angst vor der Polizei haben. Biblio­theken sind im Winter warm und im Sommer kühl. Es gibt Steckdosen, an denen man das Handy aufladen kann. Es gibt öffentliche Toiletten, die man benutzen kann, ohne dass jemand an die Tür klopft und einem sagt, dass man sich beeilen muss. Und es gibt Bücher, Computer und DVDs, wohingegen Obdachlosigkeit unglaublich langweilig ist. Ich kenne Gäste unserer Unterkunft, die bis zu vier Bücher pro Woche lesen; andere lesen mehrere Zeitungen. Das gibt ihnen das Gefühl, mit dem Rest der Welt, mit der Gesellschaft verbunden zu sein. Bibliotheken verschaffen obdachlosen Menschen wirklich eine Atempause.

Sie haben angesprochen, dass Bibliotheken weitläufig sind. Wie erleben obdachlose Nutzerinnen und Nutzer diesen Raum?
Obdachlose Menschen nehmen Raum grundlegend anders wahr als Menschen mit Wohnung. Wenn man obdachlos ist, gibt es keinen einzigen Quadratmeter im Universum, der nur einem selbst gehört. An einem Tisch in der Bibliothek haben sie dagegen das Gefühl: „Wenigstens für heute ist das mein Raum. Ich kann meine Sachen hier abstellen. Ich kann mich hier hinsetzen. Niemand wird mich auffordern, woanders hinzugehen. Keiner wird mir sagen, dass ich meine drei Bücher nicht hier hinlegen darf.“

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus "Public Library", 2013: Cyril Schäublin

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus „Public Library“, 2013: Cyril Schäublin

Wie kann ein Bibliotheksraum obdachlosenfreundlich gestaltet werden?
Es geht darum, den Raum so zu gestalten, dass sich sowohl obdachlose als auch nicht-obdachlose Menschen gerne dort aufhalten. Wenn eine Person, die nicht obdachlos ist, sich womöglich in der Nähe obdachloser Personen unwohl fühlt, helfen zum Beispiel hohe Decken. Sie vermitteln ein Gefühl von Offenheit und verhindern den Eindruck, der Raum wäre von obdachlosen Menschen dominiert. Aber ehrlich gesagt ist vieles von dem, was ich tue, weniger auf Behaglichkeit ausgerichtet als vielmehr darauf, Probleme zu vermeiden. Zum Beispiel sollten die Toiletten in der Nähe der Ausleihtheke platziert werden, wo das Personal sie einfacher im Auge behalten kann als in einer Ecke. Viele Probleme haben mit der Toilette zu tun…

Was halten Sie davon, obdachlose Personen als gesonderte Zielgruppe der Bibliotheksarbeit zu definieren? Hilft dieser Ansatz oder ist er eher kontraproduktiv?
Meistens ist das, was für alle das Beste ist, auch das Beste für Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind. Gelegentlich halte ich es aber für sinnvoll, sie als eine spezielle Gruppe zu betrachten. Unsere örtliche Bibliothek hat zum Beispiel beschlossen, einmal in der Woche einen Filmtag für ihre obdachlosen Besucherinnen und Besucher zu veranstalten. Sie ist an mich herangetreten, um sicherzustellen, dass ihr Plan deren Bedürfnissen entspricht. Wenn also ein Mehrwert für obdachlose Personen geschaffen werden kann, ist das großartig. Es geht darum, sich der Bedürfnisse dieser Menschen bewusst zu sein, ohne sie zu fetischisieren.

Wie können Bibliotheken solch einen Mehrwert für ihre obdachlosen Nutzerinnen und Nutzer schaffen?
Das Wichtigste, was Bibliotheken tun können, ist, freundliche Orte für Menschen zu sein, die ansonsten nun einmal nicht allzu viel Freundlichkeit erfahren. Zweitens sollten sie ganz einfach Bibliotheken sein, also Bücher und Computer zur Verfügung stellen. Obdachlose Menschen haben das gleiche Informationsbedürfnis wie alle anderen, nur haben sie nicht die Mittel, sich die Informatio­nen zu kaufen. Sie brauchen die Bibliothek.

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus "Public Library", 2013: Cyril Schäublin

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus „Public Library“, 2013: Cyril Schäublin

Die American Library Association (ALA) hat sich verpflichtet, ihren Einfluss zu vergrößern, indem sie „Obdachlosigkeit durch bibliothekarisches Engagement reduziert“. Wie nehmen Sie das soziale Verantwortungsbewusstsein der Bibliotheken in den USA wahr?
Viele Leute halten es für vollmundig, über die Rolle von Bibliotheken bei der Beendigung von Obdachlosigkeit zu sprechen, aber ich glaube nicht, dass es das ist. Natürlich können Bibliotheken die Obdachlosigkeit nicht unabhängig von allen anderen beenden. Aber das kann auch kein anderer Teil der Gesellschaft, weder das Gesundheitswesen noch die Notunterkünfte. Sie alle können ihren Teil beitragen. Die einzigartige Rolle der Bibliotheken in der Gesellschaft besteht darin, dass sie ein Gemeinschaftszentrum sind, ein Ort der Begegnung. Das spricht einen breiteren Trend an, der sich in der gemeinnützigen Arbeit momentan vollzieht. Das alte Modell bestand darin, die Klientinnen und Klienten von Büro zu Büro zu schicken. Das neue Modell sieht vor, all die verschiedenen Fachleute in einem Gebäude unterzubringen und den Menschen so die Möglichkeit zu geben, sich in diesem multidisziplinären Raum zu vernetzen. Eine Bibliothek sollte die Tatsache, dass sie ein Treffpunkt für die Gemeinschaft ist, dazu nutzen, als Drehscheibe für andere Dienstleistungen zu fungieren. Sie muss kein Treffen der Anonymen Alkoholiker veranstalten – die Anonymen Alkoholiker können das Treffen in der Bibliothek veranstalten. Sie muss keinen Anwalt einstellen – die Rechtshilfeagentur kann Anwälte einstellen und ihnen Arbeitsplätze in der Bibliothek einrichten. Dieses Modell spielt die Stärke der öffentlichen Bibliothek als Gemeinschaftszentrum aus.

Bibliotheken haben seit der Nachkriegszeit darauf abgezielt, ihre sakrale Aura abzubauen und stattdessen den Zugang zu Wissen zu demokratisieren. Heute stehen wir vor einem weiteren Wendepunkt, da physische Bücher ihre Eigenschaft als Hauptinformationsquelle verloren haben. Wie erleben Sie die Entwicklung der Bibliothek im 21. Jahrhundert?
Heute ist das wichtigste demokratisierende Konzept einer Bibliothek, dass sie Unwissenheit bekämpfen kann. Sie ist nicht wie ein Fußballstadion, in dem Menschen einfach nur zusammenkommen – in der Bibliothek kommen Menschen zusammen, um Unwissenheit zu reduzieren und Neugier zu wecken. Das ist im Grunde ihr Raumkonzept. Die Bibliothek ist einer der letzten Räume einer Gesellschaft, in dem sich alle unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppen zur gleichen Zeit am gleichen Ort treffen. Ich halte das für ungemein wichtig, denn wenn Normal- und Besserverdienende nie mit armen Menschen interagieren, ist es einfach, Angst zu haben, Vorurteile zu bilden, zu urteilen und eine Politik zu machen, die sehr schlecht für arme oder obdachlose Menschen ist. Es ist etwas anderes, wenn sie ein Gesicht bekommen. Obdachlosigkeit ist dann nicht mehr irgendein Typ, der keine Arbeit haben will – sondern es ist der Typ, der sich gestern vier Stunden lang ins Zeug gelegt hat, um seinen Lebenslauf zu schreiben. Menschen ändern ihre Politik und ihre Ansichten häufiger aufgrund von Beziehungen als aufgrund von intellektuellen Debatten. Diese Möglichkeit, mit Leuten im gleichen Raum zu sein, die nicht so sind wie man selbst, ist absolut entscheidend für die Demokratie.

Die Wissenschaft bezeichnet Bibliotheken als Third Places beziehungsweise „Dritte Orte“. Der Soziologe Ray Oldenburg prägte diesen Begriff für andere Orte als das Zuhause (First Place) und die Arbeit (Second Place). Er definierte einen Dritten Ort als inklusiven, neutralen Boden, der den sozialen Status von Menschen nivelliert, als home away from home. Könnten wir aus der Perspektive obdachloser Menschen sogar von einem home instead of home sprechen?
Wenn man das Zuhause als einen stabilen Raum definiert, in dem man akzeptiert wird, dann ist für viele obdachlose Menschen die örtliche Bibliothek sicherlich das, was einem Zuhause am nächsten kommt.

Was ist der Schlüssel zur gemeinsamen Nutzung dieses Raums? Wie streng dürfen die Regeln sein?
Ich bin ein großer Verfechter des Ansatzes: „Wenn die Regel einen Zweck hat, wende sie an – wenn nicht, schaff sie ab.“ Wenn es keine Regeln gibt, kann eine Gemeinschaft nicht bestehen. Und ohne Regeln leiden die Verletzlichsten immer am meisten. Das Wichtigste an einer Regel ist nicht, ob man sie anwendet, sondern wie. Man kann eine Regel auf eine Weise anwenden, die Respekt vermittelt. Ich verbringe inzwischen den Großteil meiner Zeit damit, Menschen beizubringen, wie sie Regeln mit Empathie statt Bestrafung als Leitgedanken anwenden.

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus "Public Library", 2013: Cyril Schäublin

Seattle Central Library (OMA / LMN, 1999-2004), Filmstills aus „Public Library“, 2013: Cyril Schäublin

Ein problematisches Thema ist der Körpergeruch. Es ist schwierig, dazu eine Regel zu formulieren, weil die individuelle Wahrnehmung von Geruch unterschiedlich ist…
Bibliotheken können Personen wegen ih­res Körpergeruchs hinausbitten – wenn sie es richtig tun. Sie geraten allerdings in Schwierigkeiten, wenn sie den Körpergeruch schlichtweg als Vorwand benutzen, um obdachlose Benutzerinnen und Benutzer hinauszuwerfen. Wenn zum Beispiel zehn Leute die Bibliothek verlassen möchten, weil eine Person unangenehm riecht, ist das ein echtes Problem. In so einem Fall ist es keine Diskriminierung der Person, die nicht den gleichen Zugang zu einer Dusche hat, wenn man sie bittet, zu gehen. Es ist eine Abwägung im Sinne des Allgemeinwohls und meiner Meinung nach völlig angemessen. Aber wenn eine Führungsperson reinkommt, nachdem sie im Fitnessstudio war, und ebenfalls aufdringlich riecht, dann sollte man sie genauso behandeln. Denn wenn man es nicht tut, dann ist es wirklich nur Diskriminierung von Menschen in Armut.

Während des Corona-Lockdowns versorgt die örtliche Bibliothek Ihre Notunterkunft mit Büchern. Wie erleben Sie die Bedeutung von Bibliotheken während der Pandemie?
Unsere Gäste vermissen die Bibliothek definitiv, vor allem weil es in Illinois gerade (Anfang Februar, Anm. d. Red.) brutal kalt ist. Sie sind sozusagen in der Unterkunft gefangen – und das ist einfach nicht gesund. Während Bibliotheken ihnen eine temporäre Erholung von der Obdachlosigkeit geboten haben, bekommen sie die Obdachlosigkeit nun seit einem Jahr 24 Stunden am Tag, an sieben Tagen der Woche mit ganzer Wucht zu spüren.

Welche anderen öffentlichen Einrichtungen würden Sie neben den Bibliotheken dazu auffordern, sich für obdachlose Menschen zu öffnen und ihre Dienstleistungen für diese auszubauen?
Wir haben einen Spender, der einmal pro Jahr ein öffentliches Schwimmbad für unsere Notunterkunft anmietet. Wir bringen dann alle Gäste dorthin und sie schwimmen vier Stunden lang. Dabei fällt mir immer auf, dass man in einem Schwimmbad, wenn alle herumplanschen, nicht erkennen kann, wer obdachlos ist. Öffentliche Parks sind auch ein unglaublich wichtiger Raum. Wenn Sie in einen Park gehen und sofort hinausgejagt werden, weil Ihre Kleidung schmutzig oder zerfleddert ist, wo gehen Sie dann hin? Natürlich werden öffentliche Räume von manchen missbraucht, aber meiner Erfahrung nach werden Menschen oft nicht deswegen verjagt, weil sie etwas falsch gemacht haben, sondern nur, weil ihre Anwesenheit denjenigen, die Geld haben, Unbehagen bereitet. Die Idee dahinter ist, den Raum für die Mitte der Gesellschaft angenehm zu machen – unter dem Vorwand, ihn sicher zu machen. Es gibt allerdings einen gro­ßen Unterschied zwischen „angenehm“ und „sicher“. Man kann sich wirklich unwohl fühlen, ohne in Gefahr zu sein. Oft heißt es, die Leute hätten ein Recht darauf, sich sicher zu fühlen. Nun ja, nur weil sie sich in der Nähe von armen Menschen nicht sicher fühlen, kann ein Raum nicht für sie verändert werden.

Maximilian Liesner, M. A., studierte Urbanistik, Kunstgeschichte und Germanistik in Essen, Tübingen und Istanbul. Anschließend arbeitete er am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main als wissenschaftlicher Volontär und freier Kurator. Seit 2019 ist er Chef vom Dienst dieser Zeitschrift. Für Anregungen und Hinweise zu diesem Beitrag dankt er Prof. Dr. Wilfried Wang und Lars Müller Publishers, Dr. Jonas Fansa sowie Marika Schmidt.

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