Buch der Woche: Lederer Ragnarsdóttir Oei 2

Gegen den Bullshit

2013 veröffentlichte der US-amerikanische Ethnologe und Anthropologe David Graeber im französischen Magazin „Strike!“ den Artikel „On the Phenomenon of Bullshit Jobs: A Work Rant“ – auf deutsch „Über das Phänomen der Bullshit-Jobs“. Der im letzten Jahr verstorbene Graeber war Wirtschaftsprofessor an der London School of Economics and Political Science, den Essay baute er nach zahlreichen Diskussionen und Zuschriften bis 2018 zu einem Buch aus, das nurmehr „Bullshit-Jobs“ heißt und seit 2019 auch auf deutsch vorliegt. Graeber legt hochgradig anschaulich dar, dass in unserer kapitalistischen Gesellschaft die Zahl derer stetig zunimmt, die von sich selbst sagen, ihr Job verschaffe der Gesellschaft keinen Mehrwert. Oder andersherum: Ohne die von ihnen ausgeübte Tätigkeit wäre die Welt kein schlechterer Ort. Ja mehr noch: Niemand würde merken, wenn ihre Stelle gestrichen würde. Graeber unterscheidet dabei fünf Typen von Bullshit-Jobs, deren Spezifizierung hier nicht wichtig ist, zur Vertiefung aber dringend empfohlen sei. Wichtig jedoch ist, dass es dem Autor dabei nicht um „Scheiss-Jobs“ geht, also Arbeiten, die schlecht bezahlt werden, aber erledigt werden müssen – oft unter prekären Bedingungen, vielfach von Menschen mit Migrationsgeschichte und meist von Frauen. Reinigungsdienste etwa oder viele Berufe der Care-Arbeit. Hier entsteht ein gesellschaftlicher Mehrwert, eine echte und damit monetarisierbare Anerkennung aber ernten die Menschen, die diese Berufe ausüben, in aller Regel nicht. Ein Bullshit-Job also ist eine Tätigkeit, die keinen gesellschaftlichen Mehrwert entstehen lässt.

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Bischöfliches Ordinariat und Diözesan-Archiv, Rottenburg 2010 – 2013, Abb.: Jovis

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Bischöfliches Ordinariat und Diözesan-Archiv, Rottenburg 2010 – 2013, Abb.: Jovis

Analog zum Anstieg der Summe der Bullshit-Jobs scheint auch die Menge von Bullshit-Architektur in Stadt und Land stetig zuzunehmen. Bauten, die aus einem sich selbst antreibenden, kapitalistischen System heraus entstehen und keinem gesellschaftlichen Zweck mehr dienen, ja nicht einmal mehr das Minimalziel von Architektur erfüllen, ein umhegtes Obdach zu sein, da es sich um Investorenarchitektur handelt, in der wahlweise gearbeitet oder ausschließlich von sehr Wohlhabenden gewohnt werden soll.

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Kunstmuseum, Ravensburg 2010 – 2013, Abb.: Jovis

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Kunstmuseum, Ravensburg 2010 – 2013, Abb.: Jovis

Umso beruhigender ist es, ein architektonisches Werk zu betrachten, das offenkundig aus einem anderen Antrieb heraus entstand. Seit 41 Jahren nun gibt es das Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei – und was mit Einfamilienhäusern begann, ist inzwischen angewachsen zu einem beeindruckenden Œuvre, das nicht mehr nur in ein Buch passt. Und so legen Jórunn Ragnarsdóttir und Arno Lederer, die das Stuttgarter Büro 1979 gründeten, gemeinsam mit dem heutigen Büropartner Marc Oei nun schon den zweiten Band ihrer Werkschau im Berliner Jovis Verlag vor. Neu aufgelegt wurde der bis dato vergriffene erste Band. Versehen mit einer weißen Banderole – in Abgrenzung zum zweiten Band mit einer schwarzen – ist das Buch nun wieder lieferbar. Herrlich homogen liegen die beiden, in braunes Leinen eingeschlagenen Publikationen nebeneinander. Schwarz/weiß-Fotografien, einheitliche Lagepläne – die es einem nicht immer ganz leicht machen, den Bau, um den es geht, direkt zu identifizieren – und feine Planzeichnungen sind für alle gezeigten Architekturen einheitlich. Das macht beim Anschauen Freude.

Lederer Ragnarsdóttir Oei, dialogicum, Karlsruhe 2016 – 2019, Abb.: Jovis

Lederer Ragnarsdóttir Oei, dialogicum, Karlsruhe 2016 – 2019, Abb.: Jovis

Der zweite Band beginnt mit einem angenehmen, weil souverän vorgetragenen Text der Herausgeber, in dem Ragnarsdóttir, Lederer und Oei reflektieren, was sich im Laufe von 41 Jahren Architekturproduktion ändert und was bleibt. Wie ein Blick in den Spiegel, so schreiben sie, erkenne man deutliche Veränderungen, sei aber doch immer noch der gleiche geblieben. Was also hat sich geändert? Beim ersten großen Projekt, der Stadtmitte Fellbach, lagen die Nebenkosten für Fachplanung bei rund 18 Prozent, inzwischen sei dieser Wert auf bis zu 30 Prozent der Projektkosten angewachsen.

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart 2017 – 2020, Abb.: Jovis

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart 2017 – 2020, Abb.: Jovis

Gezeigt werden nun Schulen und Kindergärten, Stadthäuser, Bildungszentren, Sparkassen oder ein sehr großzügiges Wohnhaus – alle zwischen 2013 und 2021 erbaut. Kurze Texte erläutern die Bauten. Ein Kapitel ist „Objekte“ überschrieben und widmet sich spezifischen Details: Wasserspeier, Türdrücker, Klappläden, Briefkästen, verschiedene Leuchtentypen, Deckensegel und Theaterbestuhlungen finden sich hier. Diese seit 1979 entstandenen Objekte sind nicht nur fotografisch schön ins Bild gesetzt, vielmehr wird in den Erläuterungen die Intention hinter der gesondert betrachteten Gestaltung dieser Bauteile deutlich. Die Akribie, mit der die Architekten und Architektinnen nach einer folgerichtigen Lösung suchen, ist kein Selbstzweck, die Wertigkeit der Objekte drückt sich durch ihre formale Eigenständigkeit aus und zeugt so vom Prozess, der sie im Einklang mit dem jeweiligen Bau hat entstehen lassen. Ein eigenes Kapitel wendet sich der von Jórunn Ragnarsdóttir kuratierten Gartenschau im Remstal zu, deren 16 Stationen im Jahr 2019 eröffnet wurden. Von Arno Brandlhuber über Hild&K und Florian Nagler bis zu su und z architekten beteiligten sich 16 Büros mit je einer kleinen Architektur an der Schau.

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Musikzentrum, Plochingen 2019 – 2021, Abb.: Jovis

Lederer Ragnarsdóttir Oei, Musikzentrum, Plochingen 2019 – 2021, Abb.: Jovis

Was also überdauert die Zeit seit Bürogründung? Mit Blick auf einen Dialog zwischen dem jungen Gottfried Böhm und seinem Vater Dominikus erklären sich die Herausgeber: Man wolle Häuser bauen, bei denen „einem das Herz aufgeht“. Das Buch-Doppel macht nicht nun nur klar, was darunter zu verstehen ist, sondern auch, wie Jórunn Ragnarsdóttir, Arno Lederer und Marc Oei seit 41 Jahren genau das erfolgreich versuchen.
David Kasparek

Lederer Ragnarsdóttir Oei (Hrsg.): Lederer Ragnarsdóttir Oei 2, 264 S., 150 s/w Abb., Leinenband mit Banderole, Deutsch/Englisch, Jovis, Berlin 2021, 48,– Euro, ISBN 978-3-86859-706-6

Lederer Ragnarsdóttir Oei (Hrsg.): Lederer Ragnarsdóttir Oei 1, 264 S., ca 150 s/w Abb., Leinenband mit Banderole, Deutsch/Englisch, Jovis, Berlin 22021 (2012), 42,– Euro, ISBN 978-3-86859-199-6

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