Die globale Erdung

Terrestrische versus libertäre Ethik

Von Stephan Trüby

In rhythmischen Abständen erwachen Architektur und Stadtplanung, erwachen Architektinnen und Stadtplaner aus dem verdienten Erholungsschlaf künstlerischer Autonomiediskurse über gutes und schlechtes Bauen, um sich in einem Wachzustand von Gut-Böse-Debatten wiederzufinden, so der Architektur- und Kulturtheoretiker Stephan Trüby. Auch derzeit werde wieder Morgentoilette aller Orten verrichtet: Moral-, Ethik-, Gerechtigkeits- und Verantwortungsfragen durchziehen den Architekturdiskurs in einer enervierenden Weise, wie sie seit den 1970er Jahren, seit der Heraufkunft einer traditionsseligen, unter dem Label „Postmoderne“ schubladisierten Architektur und Stadtplanung nicht mehr für möglich gehalten wurden.

Hierfür stehen die zahllosen Bereichsethiken im weiten Feld des Bauens und allgemein der Umweltgestaltung, die vor allem ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Bibliotheksregale aufzufüllen begannen. ¹ Hierfür stehen aber auch die vielen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte um Projekte von global agierenden Architekturbüros wie Zaha Hadid Architects in Honduras und anderswo. ² Sie müssen vor dem Hintergrund einer weltweiten ökonomischen Liberalisierung gesehen werden, für die das Jahr 1973 den symbolischen Startpunkt markiert. Damals brach die 1944 im Rahmen des Bretton-Woods-Abkommens neu geschaffene internationale Nachkriegs-Währungsordnung mit dem goldgebundenen US-Dollar als Ankerwährung zusammen – mit moralisch-ethischen Konsequenzen, die paradigmatisch in Robert Nozicks libertärem Schlüsselwerk Anarchie, Staat und Utopia (1974; dt.: 1976) vorliegen. Nozick (1938 – 2002) entfaltet darin eine Minimalstaat-Fantasie, die jeglicher Sozialstaatlichkeit und insbesondere Umverteilungsmaßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit die moralische Legitimität abspricht. Es liegt auf der Hand, dass die neoliberalen Entwicklungen in Politik und Ökonomie, die 1979 mit der Wahl Margaret Thatchers zur britischen Premierministerin und Ronald Reagans zum US-Präsidenten 1980 weltweit offensichtlich wurden, auch starke Auswirkungen auf Architektur und Urbanismus hatten. Besonders deutlich werden die Neoliberalisierungstendenzen in Architektur und Stadtplanung im weitgehenden Verschwinden öffentlicher Bauherrschaft im Bereich des sozialen Wohnungsbaus und vor allem: in der Komplettaufgabe utopischen Denkens, die Ana Jeinić einmal als „crisis of the very category of the project“ ³ beschrieb.

Nicholas Grimshaw, Eden-Project, Cornwall, England. Foto: Airwolfhound, CC BY-SA 2.0

Eine unter den Bedingungen des Neoliberalismus entwickelte Spielart von Utopien gibt es aber doch, so Jeinić, etwa mit Blick auf Nicholas Grimshaws Eden Project (2003), nämlich die grüne: „(…) the green utopias of the early twenty-first century are, in the first place, concerned with the possibilities of surviving the potentially disastrous consequences of the given political and economic developments hallmarked by neoliberalism (without trying to undermine or significantly rechannel these developments).“ ⁴ Derlei salvatorische – also erhaltende – Utopien, ⁵ die dezidiert anti-revolutionär zu verstehen sind, implizieren nicht zuletzt eine ethische Position der Nachhaltigkeit. Auch vor diesem Hintergrund ist die von Martin Düchs in seinem Buch Architektur für ein gutes Leben (2011) erhobene Nachhaltigkeitsforderung zu verstehen, auf der eine „Standesethik der Architekten“ in gleich dreifacher Weise aufbauen könne: Erstens als „Sorge um die eigenen Kinder“; ⁶ zweitens als Sorge um das „Verhältnis der Länder der ‚ersten Welt‘ zu denen der ‚dritten Welt‘ beziehungsweise über die Ausbeutung der ‚Länder des Südens‘ durch die Industrieländer“; ⁷ und drittens als ersatzreligiöse Intuition, „wonach lediglich ein respektvoller Gebrauch der Natur beziehungsweise natürlicher Ressourcen, keinesfalls aber ein Verbrauch gestattet ist“. ⁸ Gerade der letzte Aspekt wird von tief gläubigen Rechtskonservativen wie Alexander Grau immer wieder insofern dementiert, als das wahre Christ-Sein als „nicht der Zukunft zugewandt“ dargestellt wird: „(…) für das Reich Gottes spielt sie keine Rolle.“ ⁹ Und überhaupt, so Grau, sei die Klimakrise mindestens Angstlust, wenn nicht komplett imaginiert: „Medien lieben die Katastrophe. Und die größte Katastrophe ist der Weltuntergang.“ ¹⁰ Nicht zuletzt gegen derlei Klimawandel-Skepsis, insbesondere aber auch und vor allem gegen die Anti-Klimapolitik eines Donald Trump oder Jair Bolsonaro hat Bruno Latour sein Buch Das terrestrische Manifest (2017) geschrieben, in dem er mit Blick auf das historische Ereignis des Pariser Klimaabkommens 2015 ausführt, dass die einzig sinnvolle Alternative zur selbstmörderischen Erhitzung des Planeten nur die globale Erdung, das kollektive Terrestrisch-Werden sein kann: „Das Terrestrische stellt nicht länger den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon.“ ¹¹ Entsprechend sei als zentrale Ethik des gegenwärtigen, auf die Zukunft ausgerichteten Architekturdiskurses die terrestrische festgehalten.

Terrestrische Ethiken liegen beispielsweise mit dem 2019 veröffentlichten Aufruf
„Architects Declare“ vor, in dem der drohende „Klimakollaps“ und der „Verlust an Biodiversität als die größten Probleme unserer Zeit“ eingestuft werden: „Gebäude und Bauvorgänge spielen darin eine wichtige Rolle, da sie circa 40 Prozent aller CO2-Emissionen erzeugen.“ ¹² Weiter wird ausgeführt: „Es bedarf eines Paradigmenwechsels, um die gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen, ohne dabei die ökologischen Grenzen unseres Planeten zu verletzen. Zusammen mit unseren Bauherren werden wir Gebäude, Städte und Infrastruktur entwerfen und realisieren müssen, die Bestandteile eines größeren, regenerativen Systems sind.“ ¹³ Um diesem Wandel gerecht zu werden, verpflichten sich die 6000 unterzeichnenden Büros in 20 Ländern, zu denen international bekannte Namen – wie Richard Rogers Büro Rogers Stirk Harbour + Partners, Hopkins Architects, David Chipperfield Architects oder Christoph Ingenhoven – gehören, auf eine elfgliedrige Selbstverpflichtung, in der unter anderem zu lesen steht: „Mehr regenerative Designprinzipien und -elemente in die Entwürfe einplanen, mit dem Ziel, eine Architektur und einen Urbanismus herzustellen, die weiter gehen als Zero-Carbon Standards.“ Oder: „Durch eine Zusammenarbeit zwischen Baufirmen, Ingenieuren und Bauherren den Baumüll weiter reduzieren.“ Oder: „Den Wandel zu ökologisch verantwortbaren Materialien beschleunigen.“ ¹⁴

Weiter als die britische „Architects Declare“-Initiative geht die seit 2020 existierende deutsche Vereinsinitiative „Architects for Future Deutschland e.V.“, die die „Fridays for Future“-Dynamik auf das Bauwesen übertragen will und sieben radikale Forderungen an die Branche stellt. Erstens: „Hinterfragt Abriss kritisch.“ Zweitens: „Wählt gesunde und klimapositive Materialien.“ Drittens: „Entwerft für eine offene Gesellschaft.“ Viertens: „Konstruiert kreislaufgerecht.“ Fünftens: „Vermeidet Downcycling“, als Recycling-Prozesse, die Material verschlechtern. Sechstens: „Nutzt urbane Minen.“ Und siebtens: „Erhaltet und schafft biodiversen Lebensraum“. Die Berliner Architektin Johanna Wörner von der „Architects for Future“-Initiative sieht die Industrienähe der britischen „Architects Declare“-Initiative recht kritisch und vertraute der Süddeutschen Zeitung an: „Wir haben nicht mehr die Zeit, vage Manifeste auszurufen“. ¹⁵

Zaha Hadid Architects, Roatán Próspera Residences, Roatán Island, Honduras, Rendering: ZHA

Die terrestrische Ethik, die vor dem Hintergrund eines unbedingt zu vermeidenden worst-case-Szenarios zu verstehen ist, erntet ihren stärksten Gegenwind von hyper-neoliberalen Akteurinnen und Akteuren wie etwa dem deutsch-britischen Architekten Patrik Schumacher (geb. 1961), die sich einer libertären Ethik hingeben. Schumacher, der seit Hadids Tod 2016 Chef von Zaha Hadid Architects ist, distanzierte sich denn auch 2020 mit seinem Büro von der „Architects Declare“-Initiative via Pressemitteilung: „We saw Architects Declare as a broad church to raise consciousness on the issues; enabling architectural practices of all sizes to build a coalition for change and help each other find solutions. We need to be progressive, but we see no advantage in positioning the profession to fail. In fact, it would be a historic mistake.“ ¹⁶ Dem vorangegangen waren von „Architects Declare“ als „absurd“ verurteilte Äußerungen Schumachers wie die folgende: „I want to warn against those voices who are too quick to demand radical changes, to moralize, even talking about degrowth (and) breaking up global supply chains.“ ¹⁷ Dazu passt auch Schumachers allgemeiner Protest gegen „politische Korrektheit“: „STOP political correctness in architecture“ schreibt er bereits 2014 in einem Facebook-Post anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale in Venedig, um weiter auszuführen: „Architects are in charge of the FORM of the built environment, not its content. We need to grasp this and run with this despite all the (ultimately conservative) moralizing political correctness that is trying to paralyse us with bad conscience and arrest our explorations if we cannot instantly demonstrate a manifest tangible benefit for the poor—as if the delivery of social justice is the architect’s competency.“ ¹⁸

Zaha Hadid Architects, Roatán Próspera Residences, Roatán Island, Honduras, Rendering: ZHA

Schumachers antimoralische Position, die in beispielloser Intersektionalität alle möglichen Bereiche menschlichen Handelns umfasst – er sieht sich gegenwärtig etwa, wie The Guardian berichtet, auch Vorwürfen sexualisierten Machtmissbrauchs gegenüber ¹⁹ –, steht paradigmatisch für eine bestimmte Spielart zeitgenössischer Architekturpraxis, in der ein demiurgisch inspirierter Weltenbau-Impetus sein Heil in einer heterogenen Kleinstaaterei mithilfe von „Free Private Cities“ sucht. Gemeinsam mit der Investmentfirma NeWay Capital und Titus Gebel, einem libertären Unternehmer auf dem Feld der „Free Private Cities“, entwickelt Zaha Hadid Architects derzeit die Steueroase Prospéra auf der zu Honduras gehörenden Atlantik-Insel Roatán – mit einer eigenen, von Honduras unabhängigen Investoren-Rechtsprechung. ²⁰ Die TU München International GmbH, die das Projekt ursprünglich mit unterstützte, hat sich mittlerweile aufgrund von Menschenrechtsbedenken zurückgezogen. ²¹

Prof. Dr. phil. Stephan Trüby (*1970) ist Professor für Architektur und Kulturtheorie sowie Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Zuvor lehrte er an der HfG Karlsruhe, der Zürcher Hochschule der Künste, der Harvard University und der TU München. Seine Doktorarbeit schrieb er bei Peter Sloterdijk und Heiner Mühlmann. Er studierte an der Architectural Association School of Architecture in London, wo er aktuell als External Examiner wirkt. Bei der 2014 von Rem Koolhaas kuratierten Architekturbiennale Venedig war er Forschungsleiter. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören „Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden“ (2008), „The World of Madelon Vriesendorp“ (2008, mit Shumon Basar), „Germania, Venezia. Die deutschen Beiträge zur Architekturbiennale Venedig seit 1991 – Eine Oral History“ (2016, mit Verena Hartbaum), „Absolute Architekturbeginner: Schriften 2004 – 2014“ (2017), „Die Geschichte des Korridors“ (2018) und „Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche“ (2020).

Anmerkungen

1 Beispiele in chronologischer Reihenfolge: Karsten Harries: The Ethical Function of Architecture, 1998; Kenneth K. Humphreys: What Every Engineer Should Know Abour Ethics, 1999; Tom Spector: The Ethical Architect, 2001; Nicholas Ray (Hrsg.): Architecture and its Ethical Dilemmas, 2005; Graham Owen (Hrsg.): Architecture, Ethics and Globalization, 2009; Thomas Fisher: Ethics for Architects. 50 Dilemmas of Professional Practice, 2010; William M. Taylor / Michael P. Levine: Prospects for an Ethics of Architecture, 2011; Martin Düchs: Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, 2011; Emma Felton / Oksana Zelenko / Suzi Vaughan (Hrsg.): Design and Ethics. Reflections on Practice, 2012.

2 In diesem Zusammenhang ist die mit Namen wie Susan Fainstain, David Harvey, Edward W. Soja oder Iris Marion Young verbundene „Spatial Justice“-Forschung zu erwähnen, die sich seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts arrondiert hat und gerade in jüngster Zeit, etwa im Kontext der „Black-Lives Matter“-Demonstrationen, ihre Aktualität unter Beweis gestellt hat.

3 Ana Jeinić: Neoliberalism and the Crisis of the Project … In Architecture and Beyond, in: Dies. / Anselm Wagner (Hrsg.): Is There (Anti-)Neoliberal Architecture?, Berlin 2013, S. 66.

4 Ebd., S. 69f.

5 Vgl. ebd., S. 70.

6 Martin Düchs: Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, Münster 2011, S. 186.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 187.

9 Alexander Grau: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, München 2017, S. 67.

10 Ebd., S. 112.

11 Bruno Latour: Das terrestrische Manifest (2017), 4. Aufl., Berlin 2020, S. 53.

12 https://de.architectsdeclare.com, Seitenaufruf: 06.05.2021.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Johanna Wörner, zit. nach Laura Weißmüller: Archidrecktur, in: Süddeutsche Zeitung, 01.12.2019, www.sueddeutsche.de/kultur/architects-for-future-architektur-klimakrise-1.4701359; Seitenaufruf: 06.05.2021.

16 Zit. nach Elizabeth Hopkirk: ZHA pulls out of climate pact accusing Architects Declare of „setting profession up for failure“, in: Building Design, 03.12.2020, www.bdonline.co.uk/news/zha-pulls-out-of-climate-pact-accusing-architects-declare-of-setting-profession-up-for-failure/5109364.article, Seitenaufruf: 06.05.2021.

17 Zit. nach Tom Ravenscroft: Leading architects „clearly contravening“ climate pledges says Architects Declare, in: Dezeen, 25.11.2020, www.dezeen.com/2020/11/25/architects-declare-studios-contravening-declaration/, Seitenaufruf: 06.05.2021.

18 Patrik Schumacher: STOP political correctness in architecture, zit. nach Reading Design, www.readingdesign.org/stop, Seitenaufruf: 06.05.2021.

19 Vgl. Oliver Wainwright: „Toxic dispute“ over Zaha Hadid’s £100m estate finally settled, in: The Guardian, 20.11.2020, www.theguardian.com/artanddesign/2020/nov/20/toxic-dispute-over-zaha-hadids-100m-estate-finally-settled, Seitenaufruf: 06.05.2021.

20 Vgl. Stephan Trüby: Das Faustrecht der Freiheit. Anarchokapitalistische Fantasien in der zeitgenössischen Architektur, in: Geschichte der Gegenwart, 28.03.2021, www.geschichtedergegenwart.ch/das-faustrecht-der-freiheit-anarchokapitalistische-fantasien-in-der-zeitgenoessischen-architektur/, Seitenaufruf: 06.05.2021.

21 Vgl. www.amerika21.de/2021/03/248902/zede-prospera-honduras-tu-muenchen, 21.03.2021, Seitenaufruf: 06.05.2021.

Titelbild: Nicholas Grimshaw, Eden-Project, Innenansicht, Cornwall, England. Foto: Piergiorgio Rossi

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