Buch der Woche: Umbaukultur - Für eine Architektur des Veränderns

Was Bestand hat

Mit ihrem wachsenden Ressourcenverbrauch und stetig steigenden CO2-Emissionen ist die Bauindustrie zu einem ökologischen Problemfall geworden. Ein zukunftsgerichtetes Bauen bedarf daher innovativer Technologien und kreativer Lösungsansätze genauso wie einer (Rück-)Besinnung auf ressourcenschonendere Baupraktiken. Damit einher geht auch die Frage nach dem Potenzial unserer Städte, den dort in Bauwerken gebundenen Rohstoffen und dem Energieeinsparpotenzial bei Aktivierung von Leerständen. In ihrem Buch „Umbaukultur“ plädieren Christoph Grafe und Tim Rieniets zusammen mit dem Verein Baukultur NRW für die Rehabilitierung des Arbeitens im Bestand und ein konsequentes Gebäude- und Materialrecycling: „Es ist Zeit sich das Reparieren aufs Neue anzueignen.“

Hausanbau in Mortsel, Bovenbouw Architectuur, Mortsel, Foto: Karin Borghouts u. Bovenbouw Architectuur

Hausanbau in Mortsel, Bovenbouw Architectuur, Mortsel, Foto: Karin Borghouts u. Bovenbouw Architectuur

In Form von Essays führen Umbau-praktizierende Architekten wie auch Umbau-Forschende zusammen mit den Herausgebern an die Materie heran. Die Texte von Christoph Grafe und Tim Rieniets, Markus Jager, Koenraad van Cleempoel und Bie Plevoets, Georg Giebeler, Andreas Hild, Muck Petzet sowie Andreas Müsseler beleuchten das Thema „Umbau“ aus architekturhistorischen, -theoretischen, ökologischen, sozialen und baupolitischen Blickwinkeln. Diese theoretische Annäherung an die „Umbaukultur“ füllt die ersten 80 Seiten und wird immer wieder durch großzügig gestaltete Fotoserien aufgelockert. In den Texten werden mitunter die ökologischen Vorteile des Umbauens mit klaren Zahlen beziffert: Pro Kopf entfallen in Deutschland jährlich sieben Tonnen nicht erneuerbare Rohstoffe auf das Errichten neuer Bauwerke. Den 130.000 jährlich neugebauten Bauwerken steht ein Abrissvolumen von 17.000 Gebäuden gegenüber. Pro Kopf werden dabei jährlich drei Tonnen an im Bestand gespeicherten Ressourcen freigegeben. Eine Aktivierung von Leerständen und nachhaltige Nutzung des Bestands könnte den Rohstoffumschlag um 30 Prozent senken und zusätzlich 80 Prozent weniger Bauland verbrauchen.

Baukultur Nordrhein-Westfalen, Christoph Grafe und Tim Rieniets (Hrsg.): Umbaukultur – Für eine Architektur des Veränderns

Im zweiten Buchteil gelingt mit 25 zeitgenössischen Umbauprojekten aus verschiedenen europäischen Ländern die Übersetzung des Diskurses in die Praxis. Die abwechslungsreiche und sehr ausgewogene Auswahl der Fallbeispiele illustriert, wie divers sich das Thema „Bauen im Bestand“ aufspannt. Die leichte Tendenz zu Projekten aus NRW und Belgien fällt in Anbetracht der Qualität der Beispiele kaum ins Gewicht. Neben diversen Nutzungen und architektonischen Interventionen sind von Amunts „Haus Schreber“ in Aachen hin zu „De Flat Kleiburg“ von NL Architects und XVW architectuur in Amsterdam auch verschiedenste bauliche Maßstäbe vertreten. An sorgfältig aufgearbeiteten Grundrissen und Axonometrien ist anschaulich dargelegt, wie sich die ursprüngliche Bausubstanz im jeweiligen Projekt verändert hat. Eine dezente Farblegende erleichtert die Nachvollziehbarkeit und fügt sich nahtlos in das ansprechende Gesamtlayout ein. Einheitliche Projektdaten hätten die Vergleichbarkeit der Projektmaßstäbe und die Einordnung in den Kontext noch zusätzlich erleichtert, dies tut der Lesbarkeit der vorgestellten Beispiele aber keinen Abbruch.

Mit ihrem Buch „Umbaukultur“ erheben die Herausgeber keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versuchen ein vernachlässigtes Forschungsfeld neu zu beleben. Dabei beweisen sie eindrucksvoll, dass neues Ideengut keineswegs ausschließlich mit Neubau einhergehen muss. Die sorgfältig gewählten Projekte unterstützen in jedem Sinne die Aussage der Publikation: „Umbau ist keine Frage des Maßstabs“.
Lisa-Marie Wesseler

Baukultur Nordrhein-Westfalen, Christoph Grafe und Tim Rieniets (Hrsg.): Umbaukultur – Für eine Architektur des Veränderns, 264 S., zahlr. farb. Abb., Deutsch, Softcover, 34,00, Verlag Kettler, Dortmund 2020, ISBN 978-3-86206-804-3

 

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