kritischer raum

Acht zum Denken

Das Neue Gymnasium in Bochum von Hascher Jehle, Berlin, 20112013

Die Frage nach den Bedingungen einer Wissensgesellschaft entscheidet sich auch im Architektonischen. Dass der Raum dabei der „dritte Lehrer“ sei, ist dabei ein viel benutztes Diktum, das gleichermaßen wahrscheinlich wie unbewiesen ist. Neuere Schulbautypologien weisen darauf hin, dass großzügige Gemeinschaftsflächen, sorgfältig ausgestattete Lehrräume, schöne Mensen und überhaupt eine lichte Gestaltung eine Atmosphäre erzeugen, die auch die medial durchgedrehten Kids von heute nicht unbeeindruckt lässt. Das Oerestad-Gymnasium in Kopenhagen und die A. P. Møller-Skolen in Schleswig sind bisher die vielleicht besten Beispiele, dass Abweichungen von den gängigen Schulbaurichtlinien nicht nur Architekten, sondern auch Schüler und Lehrer irgendwie glücklich machen.

Ähnliches lässt sich seit kurzem auch in Bochum beobachten. Dort ist durch den organisatorischen Zusammenschluss zweier Gymnasien ein Neubauprojekt möglich geworden, das in pädagogisch-didaktischer, aber auch in architektonischer Hinsicht zahlreiche Hinweise gibt, wie man sich eine zeitgenössische „Lernumgebung“ vorstellen kann. Gewinner des Wettbewerbs 2011 war das Berliner Büro Hascher Jehle, die in der landschaftlich reizvollen, städtebaulich und architektonisch allerdings herausfordernden Umgebung einen achtförmigen, dreigeschossigen Baukörper vorgeschlagen haben. Der unregelmäßige Doppelring entwickelt sein Volumen hinter einer etwas steif wirkenden halbtransparenten Hülle aus Aluminiumelementen mit einer farbigen Ornamentik des Malers Ulrich Erben, die von einer Glasabdeckung überfangen wird.

Breite Sonnenschutzbänder umziehen das Gebäude, dessen flache Silhouette partiell und etwas kurios vom blasenähnlichen Aufbau eines Luftkissendachs überlagert wird, das das architektonische Zentrum des Baus, die große Eingangshalle, überspannt. Die plane Gestalt des Schulgebäudes und die mit flachen Hügeln und Terrassen gestalteten Pausenhöfe, Sportflächen und eine als Freiluftklasse zu nutzende Senke scheinen die hügelig reliefierte Landschaft eines geologischen Gartens fortsetzen zu wollen, die sich im Westen des Schulgeländes anschließt. Zur nördlich sich mit weiteren Schulbauten fortsetzenden Straße, zur östlich gelegenen Straße und ihrer Bebauung mit Ein- und Mehrfamilienhäusern und einem benachbarten Forschungsgebäude gibt es – kein Wunder angesichts der solitären Bauform – kaum oder keine Bezüge.

So entwickelt das Gebäude seine eigentliche räumlich-architektonische Kapazität im Innern. Durch das straßenseitige, großflächig verglaste Entree mit seitlich rechts angelagerter Hausmeisterloge und einem Schülercafé links gelangt man in die weite und hohe Eingangshalle des westlichen Rings, dem im Erdgeschoss Aula, Mensa und ein so genannter „Europaraum“ als Möglichkeit für besondere Seminar- oder Vortragsveranstaltungen angeschlossen sind. Alle Räume sind durch raumhohe Glaswände einsehbar, die beweglich sind, so dass die einzelnen Raumkompartimente für unterschiedliche Zwecke verbunden werden können.

Auch hier ist der Versuch erkennbar, der Struktur des Raums landschaftliche Anmutung zu geben: Ein gestuftes Podest mit originellen Gruppensitzgelegenheiten bildet die Mitte des Raums, dessen ovale Form auf eine spindelartige Treppenskulptur zuläuft. Sie führt zu Galerien, die den ganzen Raum umlaufen und mit Leuchtbändern indirekt unterleuchtet werden. Von den Galerien werden die außen liegenden Büro-, Arbeits- und Klassenräume der Obergeschosse erschlossen. Die Treppenspindel markiert auch die Schnittstelle, an der auf allen Etagen der Übergang in die zweite, östliche Hälfte des Doppelrings angelegt ist, der im Zusammenspiel mit der Wendeltreppe und einer geschmeidigen Kurvatur die beiden Bauteile perspektivisch und räumlich anspruchsvoll miteinander verbindet.

Während der westliche Ring wesentlich der Kommunikation dient – hier sind auch Lehrerzimmer, Mitarbeitercafé, Sozial- und Beratungsräume, Schülerzeitung und das obligatorische, technisch ausgezeichnet ausgestattete Selbstlernzentrum untergebracht –, ist der östliche Ring  „konzentriert“, wie die Architekten formuliert haben. Die unregelmäßige Form des Ostrings erweitert sich so, dass die Klassenräume stellenweise beidseitig an den Erschließungsgang angelegt werden können. So lässt sich der ovale gepflasterte Hof, um den sich der Ring legt, auch für den Unterricht unter freiem Himmel für die im Erdgeschoss angelegten Kunst- und Musikräume nutzen.

In den weiteren Obergeschossen liegen die regulären Klassen der Sekundarstufen I und II und die Räume für den naturwissenschaftlichen Unterricht – relativ bescheiden bemaßte Flächen, die schon den prognostizierten Rückgang der Klassenstärken in den kommenden Jahren berücksichtigen. Alle Räume beruhen auf dem Prinzip eines quadratischen Arbeitsplatzes, sind aber dank ihrer Möblierung so variabel, dass sie alle Formen heutigen Unterrichts ermöglichen. Dreieckige Tische lassen sich zu unterschiedlichen Kombinationen zusammenstellen, die Frontalunterricht, Diskussionsrunden, aber auch Gruppen- und Projektarbeit ermöglichen. Jede Klasse verfügt über mehrere elektronische Tafeln, die über interaktiv steuerbare Beamer angefahren werden.

Das eigentlich Besondere des Baus von Hascher Jehle ist indes nicht seine technische Ausstattung, die sich auch und selbstverständlich in einem überlegten Energiekonzept widerspiegelt. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie hier unterschiedliche Raumeindrücke und Raumatmosphären zu einem gemeinsamen Ausdruck verknüpft worden sind: Von der dreigeschossigen Eingangshalle mit ihren offenen Annexräumen über die Wendeltreppe, die umlaufenden Galerien des Westrings und die im Rahmen der Möglichkeiten interessant formatierten Erschließungsgänge des Ostrings in die Klassenräume entwickelt sich ein kontinuierlicher Eindruck der Großzügigkeit und Offenheit. Die Architektur des Neuen Gymnasiums in Bochum bringt dem Einzelnen und der Gemeinschaft von Lehrern und Schülern erkennbar große Wertschätzung entgegen: Die Sorgfalt der Raumdisposition jenseits formaler Fragen und das Bewusstsein für Wirksamkeit räumlicher Gesten haben eine Lernlandschaft entstehen lassen, die Freiheit zum Atmen und zum Denken verspricht.

Andreas Denk

Fotos: Svenja Bockhop, Andreas Molatta, Maximilian Meisse

 

 

 

 

 

 

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