Uwe Schröder

Architektonische Phantasie

Fünf Überlegungen zur Funktion von Architektur und Stadt

Architektonische Phantasie wäre demnach das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, sie Raum werden zu lassen; Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als das arm Zweckmäßige, wo Phantasie sich in die Zweckmäßigkeit versenkt.(1)

Zwar wollte die Architektur – entgegen ihrer Anlagen – von Beginn an ihrer theoretischen Aufzeichnung immer schon eine andere, wollte „Kunst“ sein, aber erst im Verlauf der architektonischen Modernisierung konnte das Autonomiebestreben radikal vorangetrieben und weitgehend durchgesetzt werden: In der Moderne wählt die Architektur den Übergang zur Selbstbestimmtheit. Bindungen an Geschichte, an Ort, schluss-endlich auch noch an Gesellschaft, werden als „Fremdbestimmungen“ sukzessive verworfen und getrennt. Aber die Fragen nach Identität und Sinn bleiben fortan offen.(2)

I Sinnhaft
Dass ein Gebäude funktionieren soll, ist eine praktische Forderung, die sich an Entwurf und Bau von Architektur und Stadt richtet. „Funktion“ ist Teil des Objekts und bezieht sich auf einen übergeordneten Zusammenhang, eine Struktur, einen Organismus, ein Ganzes, beispielsweise ein Gebäude. Daher lässt sich die „Funktion“ auch als grundlegende Eigenart des Gebäudes beschreiben.

In Abhebung von den allzu oft synonym angewandten Begriffen, denen des „Zwecks“ oder des „Gebrauchs“, unterhält der Begriff „Funktion“ keine unmittelbare Beziehung zu einem (veranlassenden) Subjekt. Mit anderen Worten: Wenn wir über den Zweck reden, zielen wir auf die „Wohnenden“, wenn wir vom „Gebrauch“ sprechen, meinen wir das „Wohnen“, wenn wir hier aber nach „Funktion“ fragen, dann ist – um im Beispiel zu bleiben – das „Wohngebäude“ unmittelbar angesprochen. „Wohnen“ ist demnach weder Funktion noch Eigenart des Gebäudes, vielmehr rekurriert das Wort auf den Gebrauch des Gebäudes, allgemeiner noch auf die Verfasstheit der Wohnenden selbst. Dagegen ist „Funktion“ des Gebäudes, das „Wohnen“ (zuallererst wohl) räumlich zu ermöglichen – „Wohnen“ einzuräumen – wobei mit „Funktion“ nicht die Räume selbst gemeint sein können, als vielmehr die der Räumlichkeit eines Gebäudes hinterlegten Gebrauchsabsichten, -vorschläge oder auch -anweisungen.(3)

II Generisch?
Die Modernisierung der Architektur ist von zwei, scheinbar gegenläufigen Prozessen gekennzeichnet: von einer nivellierenden Globalisierung und von einer differenzierenden Individualisierung. Die Architektur hat auf beide Herausforderungen angemessen und vor allem maßstäblich zu reagieren: auf das Globale mit Aufmerksamkeit für das Lokale – als eine Architektur der Orte; auf das Individuelle mit Aufmerksamkeit für das Generelle – als eine Architektur der Gesellschaft. Auch diese Überlegungen von einer an Ort und Gesellschaft gebundenen Architektur lassen sich über einen „erweiterten“ Begriff der Funktion dem Gebäude einschreiben.

Mit funktionsoffenen Konzepten weist die gegenwärtige Architektur dagegen eine Tendenz auf, nach der verschiedene Funktionen vereinheitlicht und zu einer Einheitsfunktion zusammengezogen werden. Über strukturelle Angleichung der inneren Räumlichkeiten leistet das Konzept einer „generischen Funktion“ vor allem einen entscheidenden Beitrag zur Detypologisierung der Architektur. Unterstellte man hier noch eine Entsprechung von innerem Raumwerk und äußerer baulicher Gestalt, so wäre eine zunehmende Angleichung der Phänotypen die unvermeidbare Folge. Liegt aber eine solche Entsprechung erst gar nicht vor, eröffnet schon die innere generische Disposition den Spielraum für eine individualisierte äußere Gestaltung. In dem einen wie in dem anderen Fall zeigt sich eine Tendenz, die der Erkennbarkeit, „Lesbarkeit“ und Verortung von charakteristischen baulichen Repräsentationen kultureller und gesellschaftlicher Bindung entgegenwirkt: Generische Architekturen räumen konvergente Orte ein.(4)

III Porös!
Wände sind in aller Regel zweiseitig raumwirksam. Sie verlaufen zwischen unterschiedlichen Räumen, zwischen drinnen und draußen, zwischen innen und außen, zwischen Zimmern und Wegen, zwischen Häusern und Straßen, zwischen Innenräumen und Außenräumen, zwischen Stadt und Land. Wände schließen ein und aus. Über Öffnungen treten die Räume zu beiden Seiten der Wand in Verbindung. Über das Fenster tritt das Zimmer des Hauses mit der Straße oder dem Garten in Verbindung, über die Tür das eine Zimmer mit dem anderen. Öffnungen sind selbst auch Räume, je dann, wenn sie den Aufenthalt der Wohnenden innerhalb der Wand räumlich ermöglichen: in der Tür, im Fenster, in der Nische. Die Öffnungen geben die Dicke der Wand preis, die wiederum nicht nur mit Schwelle, Laibungen und Sturz in einem proportionalen Verhältnis zum Raum der Öffnung selbst stehen, sondern in gleicher Weise auch zu den außen wie innen anschließenden Räumen. Hier im Besonderen hat sich die Architektur als Raumkunst der Grenze und des Übergangs zu erweisen.

Zwischen den Räumen der Stadt und des Hauses vermittelt die Räumlichkeit der Wand. Mit der Raumgestaltung der Öffnung sucht die Architektur – nach dem Prinzip der Ähnlichkeit – die Entsprechung zwischen der räumlichen und der gesellschaftlichen Verfasstheit der Wohnenden herzustellen. So spiegelt sich in der Offenheit und/oder Geschlossenheit der Wand die gesellschaftliche Trennung von öffentlich und privat insofern wider, als das räumlich Offene in seiner architektonischen Bedeutung auf das gesellschaftlich Öffentliche hinweist. Und schon allein das Maß der Öffnung weist räumlich oder über das Dekorum symbolisch auf eine Teilhabe an dem jeweils anderen Raum hin.(5)

IV Symbolisch
All die Autonomiebestrebungen in der Architektur, von denen in den Geschichten der Architekturtheorie von Beginn an die Rede gewesen ist, müssen schlussendlich wohl als gescheiterte Absichten angesehen werden, zuletzt auch dasjenige der architektonischen Moderne. Denn die Fragen nach eigener Identität und vor allem aber nach Sinn, hat die Architektur als Disziplin – aus sich selbst heraus – ohnehin nie beantworten können. Wie auch? Und: Warum auch? Architektur ist, schlicht gesprochen, (nur) „Mittel zum Zweck“, und, um der hier innewohnenden Hierarchie Nachdruck zu verleihen, folgt noch die gewohnte Redensart nach: „Der Zweck heiligt die Mittel“.

Zweck: Ferdinand Kramer, Türdrücker, 1925, Foto: Christos Vittoratos (CC BY-SA 3.0)

In der Architektur stellt sich dieser Sachverhalt meines Erachtens als zweifache Relation dar: Zweck – Raum – Form. Mit Raum und Räumen weist die Architektur unmittelbar auf Gebrauch und Zweck hin, also, um im Beispiel zu bleiben, auf das Wohnen und die Wohnenden. Architektonischer Raum ist hier der Raum des Wohnens, ist Wohnraum, zwar ist er daher nicht mit dem Wohnen gleich, aber in gewisser Weise ähnlich, der Raum ist Sinnbild oder Symbol des Wohnens. Um diesen Raum als einen solchen erscheinen zu lassen, bedarf es immer erst der Form, der materialen Form als Böden, Wände und Decken. Nicht aber kommt deshalb die Form vor dem Raum, stets ist zuerst eine Vorstellung vom Raum vorhanden. Der architektonische Raum ist der architektonischen Form entlehnt und dennoch ist die Form nur Sinnbild, nur Symbol des Raums. Form ist nur Form des Raums, sowie Raum nur Raum des Wohnens ist. Die Form (Matrize) zeigt sich daher als Gepräge des Raums (Patrize), nach innen wie nach außen, Raum dagegen als Gepräge des Zwecks. Erst diese „Symbolisierung des Symbols“, die als doppelte Repräsentation räumlich und formal wirksam wird, bringt Architektur und vor allem Stadt hervor.

Raum: Straße in Venedig, Foto: David Kasparek

V Ideell
Jeder Entwurf ist ein idealistisches Projekt, erdacht für eine Welt, die wiederum ein idealistischer Entwurf ist: nur eine Vorstellung. Das architektonische Denken (wie ich es nenne) geht auf ein und demselben Weg in beiden Richtungen voran. Ideen werden auf die Architektur übertragen und mittels der Architektur werden Ideen erkannt. Beide Vorgänge setzen eine wechselseitige Transkription voraus, um von der einen auf die andere Seite zu gelangen. Ein Ereignis, beispielsweise ein Fest, führt zu einem architektonischen Raum, zum Beispiel einem Saal. In gleicher Weise gibt der Saal auch dann noch Auskunft über das Fest, wenn es längst vorüber ist. In der einen wie in der anderen Richtung beschreibt der Vorgang der Transkription das Entwerfen selbst und stellt den Entwurf als idealistische Annahme vor: von Architektur und von Welt Anstelle der Form tritt der volle Begriff des Raums, anstelle des Bilds der synästhetische Begriff der Atmosphäre. Um wie viel leichter fällt es uns jetzt, das Ereignis unmittelbar mit dem Raum, das Fest mit dem Saal wechselseitig zu verbinden – und auch die Ähnlichkeit zwischen beiden zu erkennen. Wir sind dabei nicht allein auf das distanzierte Auge angewiesen, sondern verlassen uns ganz auf unser Gefühl…(6)

Form: Christian Kerez, Schweizer Beitrag zur Architekturbiennale 2016, Foto: David Kasparek

Prof. Dipl.Ing. Uwe Schröder (*1964) studierte Architektur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung der Fakultät für Architektur an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 bis 2010), an der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ (2016) und am Politecnico di Bari (2016). Uwe Schröder ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift.

Anmerkungen
1 Adorno, Theodor W.: Funktionalismus heute (1977), in: Ders.: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Band 10.1., Frankfurt/Main 72018, S. 375-395.
2 Schröder, Uwe: Déjà-vu. Orte der Architektur, in: der architekt 3/17, ort. grundlagen der architektur I, S. 18-21.
3 „Funktion“ ist auch Thema der 3. Aachener Tagung Identität der Architektur am 24. und 25. Januar 2019 im Foyer der Architekturfakultät der RWTH Aachen University.
4 Zum Phänomen konvergenter Orte s.: Schröder, wie Anm. 2.
5 Schröder, Uwe: Die Wand. Grenze der Architektur. Architektur der Grenze, in: der architekt 4/16, die wand. grenze der architektur – architektur der grenze, S. 18-19 u. 20-25.
5 Schröder, Uwe: Drei Lehrer. Vom Wert der Theorie für den architektonischen Entwurf [Typoskript], Köln 2018 (im Erscheinen).

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